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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Gabriel
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und in diesem Sinne aus der Welt entfernen, implodierte er gewissermaßen und verpuffte ontologisch. Er wäre einfach weg. Wäre er völlig einsam, existierte er nicht mehr. »One is the loneliest number.«
    So gesehen, besteht die Welt aus vielen kleinen Kopien ihrer selbst. Denn jeder einzelne Gegenstand beansprucht seine Autonomie, beansprucht, genau der Gegenstand zu sein, der er ist, sei dies nun ein Kaffeetisch, eine Gemüsesuppe oder eine mathematische Gleichung. Gegenstände treten aber nur vor einem Hintergrund hervor, ohne den sie nicht existieren können. Für jede der vielen kleinen Weltkopien gilt, dass sie im Kleinen Bilder der Welt erschaffen, so dass viele kleine Weltmuster existieren. Hiermit meine ich das Folgende: Damit überhaupt irgendein Gegenstand existieren kann, kann er nicht völlig isoliert sein. Er muss in einem Sinnfeld erscheinen. Dieses Sinnfeld scheint damit aber wiederum zu einsam zu sein, um existieren zu können. Deswegen erscheint auch dieses Sinnfeld in einem weiteren Sinnfeld, und so weiter. Wir kommen niemals an ein Ende, wir erhalten auf diese Weise niemals das letzte Sinnfeld, in dem alles erscheint, die Welt. Vielmehr wird die Welt immer wieder hinausgeschoben, weshalb zumindest alle Sinnfelder existieren, die wir uns denken können (zumindest in unseren Gedanken), die Welt selbst aber nicht. Die Welt können wir uns nicht einmal denken, weil die gedachte Welt nicht mit der Welt identisch sein kann, in der wir über die Welt nachdenken.
    Den unendlichen Aufschub der Welt kann man sich als eine Form der fraktalen O ntologie vorstellen. Fraktale sind geometrische Gebilde, die aus unendlich vielen Kopien ihrer selbst bestehen. Berühmte Beispiele sind etwa der Pythagoras-Baum, siehe Abbildung 4, oder der das Sierpinski-Dreieck, siehe Abbildung 5.
    Abbildung 4 Pythagoras-Baum
    Abbildung 5 Sierpinski-Dreieck
    Die Welt ist sozusagen unendlich häufig in sich selbst hineinkopiert, sie besteht aus lauter kleinen Welten, die wiederum aus lauter kleinen Welten bestehen.
    Wir erkennen deswegen immer nur Ausschnitte des Unendlichen. Ein Überblick über das Ganze ist unmöglich, weil das Ganze nicht einmal existiert. In den schönen Worten Rilkes:
    Der Schöpfung immer zugewendet, sehn
    wir nur auf ihr die Spiegelung des Frein,
    von uns verdunkelt. Oder daß ein Tier,
    ein stummes, aufschaut, ruhig durch uns durch.
    Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein
    und nichts als das und immer gegenüber. 28
    Allerdings war Rilke der Meinung, dass es dennoch einen Ausweg gibt, eine Art Rettung vor dem Unendlichen, die er Tieren, Göttern, Engeln, Kindern und sogar Toten zutraut – poetische Gedankenspiele, auf die wir uns hier zum Glück nicht einlassen müssen.
    Aber sind wir jetzt nicht endgültig verloren? Wenn die Welt selbst zwar nicht existiert, aber dafür unendlich viele Kopien von ihr, bricht jetzt nicht endgültig alles zusammen? Wird jetzt nicht alles völlig unbestimmt und chaotisch? Woher wissen wir denn, auf welcher Ebene wir uns befinden? Befindet sich alles, was wir wahrnehmen, vielleicht nur als eine Art Elementarteilchen in einem größeren Sinnfeld, in dem ein sehr viel größerer Mensch denselben Gedanken denkt?
    In der Geometrie könnte man immerhin durch formale Operationen Ebenen unterscheiden, auf denen man sich befindet. Doch wie markiert man die Ebenen der Wirklichkeiten, in denen wir leben? Oder in unserem Fall: Woher wissen wir denn eigentlich, auf welcher Ebene oder in welchen Sinnfeldern wir uns gerade befinden? Wenn letztlich unablässig eine unendliche Sinnexplosion mitten im Nichts stattfindet, wie können wir uns selbst verorten? Geht nicht alles im Nichts unter?
    Diese Befürchtung hängt eng mit dem Phänomen des sogenannten »Nihilismus« zusammen. Der moderne N ihilismus (von lateinisch »nihil« = »nichts«), der in ganz verschiedenen Spielarten auftritt, besagt, dass letztlich alles sinnlos ist. Wir kämpfen und mühen uns auf unserem kleinen unwichtigen Planeten ab, der sich mitten im Unendlichen bewegt, ohne dass wir wirklich angeben könnten, wo wir uns befinden oder was das Ganze soll. Nach Einsteins Relativitätstheorie ist es nicht einmal ganz einfach anzugeben, zu welcher Zeit wir leben, weil es keine einzige absolute Gleichzeitigkeit, keinen Jetztpunkt gibt, an dem alle Ereignisse, die »jetzt« im Universum stattfinden, gemessen werden könnten. Manche Physiker und Metaphysiker meinen sogar, dass es gar keine Zeit gibt, dass eigentlich alles

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