Warum es die Welt nicht gibt
die Geschichte eingegangen ist. Dagegen stellt die Moderne einen S cientia-mensura- S atz , wie der amerikanische Philosoph Wilfrid Sellars ausdrücklich erklärt hat.
Wenn ich … als ein Philosoph spreche , dann kann ich sehr wohl behaupten, dass die Alltagswelt physikalischer Gegenstände in Raum und Zeit irreal ist – d. h., dass es keine solchen Dinge gibt oder, weniger paradox ausgedrückt, dass dort, wo es darum geht, die Welt zu beschreiben und zu erklären, die Wissenschaft das Maß aller Dinge ist, sowohl der bestehenden als auch der nichtbestehenden. 39
Im Zeitalter der Wissenschaft gilt die Menschenwelt als suspekt, als Bereich der Illusion, während die Welt der Wissenschaft, das Universum, zum Maßstab der Objektivität avanciert ist. Die Frage ist nicht mehr, wie uns die Welt erscheint, sondern, wie sie an sich ist.
Allerdings sollten wir durch die vorausgegangenen Kapitel bereits gerüstet sein, um diese weltanschauliche Großwetterlage in Frage zu stellen. Aus der Sinnfeldontologie folgt nämlich, dass es keine fundamentale Schicht der Wirklichkeit – die Welt an sich – geben kann, die sich unseren Registraturen immer nur verzerrt darstellt. Der S zientismus , also die These, dass die Naturwissenschaften die fundamentale Schicht der Wirklichkeit, eben die Welt an sich, erkennen, während alle anderen Erkenntnisansprüche immer auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse reduzierbar sein werden oder sich jedenfalls an diesen messen lassen müssen, ist schlichtweg falsch.
Daraus folgt keine Kritik an irgendeiner bestimmten wissenschaftlichen Disziplin oder an dem modernen Ideal der Wissenschaftlichkeit. Wissenschaftlicher Fortschritt bringt medizinischen, gastronomischen, ökonomischen, aber auch politischen Fortschritt mit sich. Je mehr wir wissenschaftlich erkennen, desto mehr nähern wir uns einigen Wahrheiten an und überwinden alte Irrtümer. Unabhängig von der Frage, wie sich Aufklärung und Wissenschaft zueinander verhalten, können wir also festhalten, dass wissenschaftlicher Fortschritt begrüßenswert ist. Allerdings ist wissenschaftlicher Fortschritt nicht identisch mit naturwissenschaftlichem Fortschritt. Es gibt auch Fortschritt in der Soziologie, der Kunstwissenschaft und der Philosophie, sowie Fortschrittsprozesse, die sich völlig jenseits der Bahnen wissenschaftlichen Denkens vollziehen, beispielsweise einen Fortschritt im Skateboarding.
Wissenschaftliche Errungenschaften sind großartige Leistungen. Wenn wir konstatieren, dass wir in einem wissenschaftlichen Zeitalter leben, ist auch dies eine erfreuliche Botschaft – eine Art Ehrentitel. Denn Wissenschaft verbinden wir mit Vorurteilslosigkeit, mit Erkenntnissen, die jedem Menschen ohne Ansehen der Person vermittelt werden können. Die Wissenschaft erkennt auf eine Weise, die für jeden nachvollziehbar und überprüfbar ist, der sich ihre Methoden angeeignet hat. Sie ist in diesem Sinne ein demokratisches Projekt, weil sie die Gleichheit aller Menschen angesichts der Wahrheit und der Wahrheitsfindung unterstellt, was nicht bedeutet, dass es nicht bessere und schlechtere Wissenschaftler gibt. Dennoch ist die Wissenschaft grundsätzlich ein gemeinschaftliches Gut.
Allerdings wird die Lage schwierig, wenn man den Ehrentitel der »Wissenschaft« oder das Prädikat »wissenschaftlich« mit einem Weltbild verbindet. Und das aus zwei prinzipiellen Gründen, die gegen ein wissenschaftliches Weltbild und gegen die Wissenschaftlichkeit eines jeden Weltbildes sprechen. Diese Gründe sind selbst wissenschaftlich, sie sind begründet und für jeden nachvollziehbar und überprüfbar, was auch bedeutet, dass man sie entkräften, zurückweisen oder gar widerlegen kann – was man allerdings erst einmal wissenschaftlich und damit auch für jeden nachvollziehbar leisten muss. Die Philosophie ist selbst in diesem Sinne wissenschaftlich, sie ist ein rechtfertigungs- und begründungsfähiges Unternehmen, gegen das man nur mit besseren Gründen Einwände erheben kann. In den letzten zweihundert Jahren, insbesondere im Gefolge Kants, wurde in der Philosophie vor allem der Weltbegriff revolutioniert. Auch die Philosophie hat hier einen Fortschritt gemacht, der sie in die Position versetzt, Weltbilder als solche zu unterminieren.
Der erste Grund, warum jedes wissenschaftliche Weltbild scheitert, liegt einfach darin, dass es die Welt gar nicht gibt. Man kann sich kein Bild von etwas machen, das es nicht gibt und auch in Gedanken nicht geben kann. Die
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