Warum es die Welt nicht gibt
in der unsere Erfahrung eigentlich keinen Platz hat. Diesen Fehler hat der Philosoph Wolfram Hogrebe in seinem Buch Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen zutreffend als »kalte Heimat« bezeichnet. 35
Die Welt, in der wir leben, zeigt sich als ein einziger, stetiger Übergang von Sinnfeld zu Sinnfeld, als Verschmelzung und Verschachtelung von Sinnfeldern. Es handelt sich nicht um eine insgesamt kalte Heimat, weil es so etwas wie »insgesamt« nicht gibt.
Es ist unbestreitbar, dass wir die Welt »vom Standpunkt eines Menschen« 36 sehen, wie Kant gesagt hat. Doch bedeutet dies nicht, dass wir sie damit nicht erkennen, wie sie an sich ist. Wir erkennen eben vom Standpunkt eines Menschen, wie die Welt an sich ist.
Im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass es nicht darum geht, die Wissenschaften oder gar ihre Objektivität zu untergraben. Nur dürfen wir die Objektivität der Wissenschaften nicht mit der Erforschung der Welt verwechseln. Die Naturwissenschaften untersuchen ihre Gegenstandsbereiche und liegen häufig richtig und manchmal falsch. Dass wir dabei unsere eigene, alltägliche Erfahrung übersehen, indem wir vorschnell auf das Ganze gehen und uns dabei selbst vergessen, liegt nicht in der Natur der Sache, sondern ist eine schlechte Angewohnheit, die man sich zum Glück abgewöhnen kann.
Die Philosophie dagegen hat sowohl in der griechischen als auch in der indischen und chinesischen Antike damit begonnen, dass sich Menschen die Frage stellten, wer sie eigentlich sind. Sie will erkennen, wer wir sind, sie entspringt dem Wunsch nach Selbsterkenntnis und nicht dem Wunsch, uns aus der Weltformel rauszustreichen. Die Einsicht, dass es die Welt nicht gibt, dass es nur Sinnfelder gibt, die sich in unendlichen Variationen unendlich vermehren, erlaubt uns, den Menschen unabhängig von irgendeinem bestimmten Weltbild zu thematisieren. Alle Weltbilder sind nämlich falsch, weil sie unterstellen, dass es eine Welt gibt, von der wir uns ein Bild machen. Wie wir sehen werden, können wir darauf verzichten, ohne deswegen auf die Wissenschaften zu verzichten. Vielmehr müssen wir diese gegen die Zumutung in Schutz nehmen, alles erklären zu müssen, eine Zumutung, der nichts und niemand gerecht werden kann.
27 Jean Paul, Biographie eines Bonmotisten , in: Ders., Historisch-Kritische Gesamtausgabe , II . Abteilung, Bd. 1, Weimar 1927, S. 448.
28 Rainer Maria Rilke, Die Gedichte , Frankfurt/Main 1998, S. 659.
29 Vgl. Brian Greene, Der Stoff, aus dem der Kosmos ist: Raum, Zeit und die Beschaffenheit der Wirklichkeit , München 2008.
30 Vgl. in diesem Sinne Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos , Frankfurt/Main 6 2001, S. 33 ff. Zu Thales vgl. auch ausführlich Ders., Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie , Frankfurt / Main 4 1987.
31 Martin Heidegger, Sein und Zeit , Tübingen 1993, § 14.
32 Vgl. Thomas Nagel, Der Blick von Nirgendwo , Frankfurt/Main 2012.
33 Rainer Maria Rilke, Die Gedichte , Frankfurt/Main 1998, S. 456 f.
34 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos , Bonn 2007.
35 Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen , Berlin 2009, S. 40.
36 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft , Stuttgart 1975, S. 90
IV. Das naturwissenschaftliche Weltbild
Wir leben in der Moderne, und die Moderne ist das Zeitalter der Wissenschaft und Aufklärung. Mit Aufklärung wird vor allem ein Vorgang im 18. Jahrhundert bezeichnet, den viele als einen ersten Gipfelpunkt der Moderne, andere hingegen geradezu als Vorboten des politischen Unheils des 20. Jahrhunderts sehen, so etwa Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrem gemeinsamen Buch Die Dialektik der Aufklärung . 37 Damit wurden sie zu den Begründern der Kritischen Theorie, also einer Theorie mit dem Arbeitsauftrag, ihre eigene Zeit auf ideologisch verzerrte Annahmen hin zu untersuchen. Auf subtile Weise wurde eine ähnliche Kritik der Aufklärung auch in der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet, etwa im Werk des Philosophen, Soziologen und Historikers Michel Foucault.
Man darf allerdings die Moderne als Zeitalter der Wissenschaft nicht mit dem historischen Prozess der Aufklärung identifizieren, da die Moderne bereits in der Frühen Neuzeit, also seit dem 15. Jahrhundert, mit einer wissenschaftlichen Revolution einsetzt – die freilich auch politische Revolutionen nach sich gezogen hat –, während die Aufklärung erst im 18. Jahrhundert beginnt. Die
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