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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Gabriel
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wissenschaftliche Revolution bestand im Wesentlichen darin, dass das gesamte antike und mittelalterliche Weltbild aus den Fugen geriet. Die Welt, so stellte sich heraus, ist keineswegs auf diejenige Weise geordnet, die man in Europa über mehrere Jahrtausende, seit den Anfängen der griechischen Philosophie, für selbstverständlich hielt. Die Moderne beginnt mit einer Dezentrierung des Menschen und seines Lebensraums, des Planeten Erde. Die Menschheit begriff, dass sie sich in einem sehr viel größeren Zusammenhang befindet, als sie vorher je zu träumen gewagt hatte und dass dieser Zusammenhang keineswegs auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist. Daraus wurde aber vorschnell auf ein wissenschaftliches Weltbild geschlossen, in dem der Mensch nicht mehr vorkommen sollte. Der Mensch begann, sich aus der Welt rauszustreichen und diese mit der kalten Heimat, dem Universum, gleichzusetzen. Damit hat er sich aber unter der Hand in das Weltbild wieder hereingeschmuggelt. Denn die Annahme, die Welt sei im Wesentlichen eine Welt ohne Zuschauer, kommt ohne den Zuschauer nicht aus, den man loswerden will.
    Es ist außerdem besonders interessant, dass die Idee einer kalten Heimat ohne Zuschauer ausgerechnet in der Zeit aufkam, als die Europäer auf Menschen mit einer genuin anderen Heimat stießen. Die Entdeckung Amerikas ist die Entdeckung, dass es mehr gibt, als man vermutete. Dabei war es ziemlich irritierend für die damaligen Europäer, dass die anderen auch vollgültige Menschen sein sollten, die sich eben nur von den Europäern unterschieden. Eine Folge dieser Begegnung war, dass die Stellung des Menschen im Kosmos insgesamt in Frage gestellt wurde. Wie der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro unterstreicht, wurde die allmähliche Verdrängung der vermeintlichen »Wilden« damit zu einem Motor der Annahme, das Universum könne auf den Menschen ganz gut verzichten. Wie er ebenfalls gezeigt hat, sind nun ausgerechnet viele der indigenen Gemeinschaften, die sich heute in Brasilien befinden, ontologisch viel weiter als das wissenschaftliche Weltbild, weil sie gerade nicht annehmen, dass sie sich in einem Universum ohne Zuschauer befinden, sondern sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, warum es sie als Zuschauer gibt und was dies eigentlich bedeutet. Viveiros de Castro sieht diese Gemeinschaften deswegen auch als Anthropologen oder Ethnologen, von denen man lernen kann, dass wir um die Frage, wer wir Menschen eigentlich sind, nicht herumkommen. 38 Er nennt dies »symmetrische Anthropologie«, was letztlich bedeutet, dass sowohl die europäischen Entdecker als auch die indigenen Gemeinschaften Menschen sind, die sich gegenseitig erforschen.
    Unabhängig von der schwierigen historischen und geschichtsphilosophischen Frage, ob die Moderne zur Aufklärung und die Aufklärung zu den großen politischen Katastrophen des letzten Jahrhunderts geführt hat, wie man manchmal im Ausgang von Adorno und Horkheimer meinte, kann erst einmal ganz nüchtern und unvoreingenommen festgehalten werden, dass es sicherlich von allergrößtem Vorteil ist, in einem Zeitalter der Wissenschaft zu leben. Es ist einfach besser, zu einem Zahnarzt mit seinem heutigen Wissen und seinen technischen Möglichkeiten zu gehen als zum Zahnarzt Platons. Auch das Reisen ist erheblich komfortabler geworden. Wenn ein altgriechischer Philosoph aus Athen zu einem Vortrag in Sizilien eingeladen war, musste er in einem sicherlich sehr unbequemen Schiff anreisen, das von rudernden Sklaven angetrieben wurde. (Und selbst das Abendessen nach dem Vortrag wäre sicherlich nach heutigem Ermessen nicht sehr empfehlenswert gewesen, zumal es damals in Europa nicht einmal Tomaten gab, die erst durch die Entdeckungsreisen der Frühen Neuzeit nach Europa kamen. An Gewürzen waren die alten Griechen auch nicht übermäßig reich. Kein Wunder, dass der Seeweg ins Gewürzparadies nach Indien ein wichtiger Faktor in der entstehenden Moderne war.)
    Trotz all ihrer großen wissenschaftlichen Errungenschaften meinten die alten Griechen, dass das Universum ziemlich begrenzt ist – sie wären wohl überrascht zu erfahren, wie viele Sonnensysteme es in der Milchstraße nach heutigen Schätzungen und Berechnungen gibt. Außerdem stand in der griechischen Philosophie der Mensch im Zentrum alles Geschehens, was auch eine Übertreibung ist. Dem Philosophen Protagoras wird sogar die These zugeschrieben, der Mensch sei das »Maß aller Dinge«, was als H omo-mensura- S atz in

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