Warum es die Welt nicht gibt
vorgestellt haben! Erinnern Sie sich an die alten Freunde, an Familienfeiern, Urlaube, den ersten Sommertag, eine wichtige Erkenntnis in der Schule! Nun machen Sie sich einmal klar, wie sehr sich Ihre Wahrnehmung im Lauf der Zeit verändert hat. Was Sie dabei beobachten, ist ein Sinnfeldwechsel, der Übergang von einem Sinnfeld in ein anderes. Dafür müssen wir aber nicht erst unsere gesamte Lebensgeschichte bemühen. Wir machen die Erfahrung des Sinnfeldwechsels ständig, in jedem noch so unwichtigen Augenblick. Ich schreibe diese Zeilen gerade auf meinem Balkon, es ist der erste sommerliche Tag, Ende April 2012. Während ich diese Zeilen schreibe, blicke ich hin und wieder auf einen schönen Kirchturm, den ich von meinem Balkon aus sehen kann. Ein Nachbarskind ruft mir etwas zu. Der kleine David spielt mit einem Gartenschlauch und sucht meine Aufmerksamkeit. Ein Segelflieger zieht gerade vorüber, und ich denke an ein Gespräch mit Thomas Nagel über die Gedanken, die ich soeben niederschreibe. Dabei versetze ich mich in sein Büro in New York am Washington Square Park. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch und hat eine sehr bedächtige und wohlwollende Art. Jetzt kehre ich aus meinen Erinnerungen zurück und verspüre einen Anflug von Durst. Ich nippe an einem Tee, der neben mir steht.
Was sich hier vollzogen hat, ist eine kleine Reise, die wir täglich viele Hundert Mal vollführen. Wir streifen von Erinnerungen zu ganz körperlichen Eindrücken wie der angenehmen Wärme oder der unbequemen Hose hin zu theoretischen Gedanken und Geräuschen. Wir fragen uns, wie wir mit unseren Mitmenschen (etwa dem kleinen David) umgehen sollen und wie der nächste Satz lauten wird. Unablässig bewegen wir uns durch unzählige Sinnfelder und kommen dabei niemals an, und ganz sicher nicht bei einem endgültigen Sinnfeld, das alles umfasst. Selbst wenn ich mir die unendlichen Weiten der Galaxien ausmale oder physikalische Gedankenexperimente anstelle, durchstreife ich doch immer nur wieder andere Sinnfelder. Es ist, als würden wir von Sinnfeld zu Sinnfeld geschickt. Selbst wenn wir unser Leben sehr bewusst in die Hand nehmen und zielgerichtet handeln, begegnen uns jeden Augenblick unzählige Zufälligkeiten: Gerüche, die wir nicht erwartet haben, Menschen, die wir nicht kennen, Situationen, denen wir noch niemals ausgesetzt waren. Unser Leben ist eine einzige Bewegung durch verschiedene Sinnfelder, und die Zusammenhänge stellen wir jeweils her oder finden sie vor. Beim Tippen dieser Zeilen bringe ich etwa das Sinnfeld »erster sommerlicher Tag, an dem ich diese Zeilen schreibe« in Anschlag und verorte die erscheinenden Gegenstände in ihm. Deswegen gibt es den Kirchturm und den kleinen David auf diesen Seiten – alltägliche Kleinigkeiten, aber wichtige.
Unsere Alltagssprache reicht allerdings kaum hin, um uns wirklich an das heranzuführen, was wir erleben, weshalb Dichter wie Rainer Maria Rilke sich letztlich als die besseren Phänomenologen, als Retter der Phänomene, erwiesen haben. In einem seiner Neuen Gedichte beschreibt er die Kindheit genauso wie die Sinnfeldontologie, die in vielem an Rilkes Dichtung orientiert ist.
Es wäre gut viel nachzudenken, um
von so Verlornem etwas auszusagen,
von jenen langen Kindheit-Nachmittagen,
die so nie wiederkamen – und warum?
Noch mahnt es uns –: vielleicht in einem Regnen,
aber wir wissen nicht mehr was das soll;
nie wieder war das Leben von Begegnen,
von Wiedersehn und Weitergehn so voll
wie damals, da uns nichts geschah als nur
was einem Ding geschieht und einem Tiere:
da lebten wir, wie Menschliches, das Ihre
und wurden bis zum Rande voll Figur.
Und wurden so vereinsamt wie ein Hirt
und so mit großen Fernen überladen
und wie von weit berufen und berührt
und langsam wie ein langer neuer Faden
in jene Bilder-Folgen eingeführt,
in welchen nun zu dauern uns verwirrt. 33
Wir Menschen wollen völlig zu Recht wissen, was das Ganze eigentlich soll und worin wir uns befinden. Diesen metaphysischen Trieb darf man nicht unterschätzen, denn er macht den Menschen aus. Der Mensch ist ein metaphysisches Tier, ein Tier, dem es auch darum geht, seine »Stellung im Kosmos« zu bestimmen, wie dies Max Scheler in einem klassischen Büchlein genannt hat. 34 Doch müssen wir mit unserer Antwort auf die Frage, was das Ganze eigentlich soll, sehr vorsichtig sein. Denn wir können nicht einfach unsere Erfahrung überspringen und so tun, als ob es eine riesengroße Welt gäbe,
Weitere Kostenlose Bücher