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Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Titel: Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Druckerman
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Fähigkeiten zu erlernen. Wenn ich eine Krise habe oder nicht weiterweiß, frage ich mich oft: Was würde eine französische Mutter jetzt tun?
    Aber es fällt mir schwer zu akzeptieren, welch großen Wert Franzosen der Selbstständigkeit beimessen. Natürlich möchte ich nicht, dass meine Kinder von mir abhängig bleiben. Aber wozu die Eile? Müssen sie schon in einem so zarten Alter zur Selbstständigkeit gedrängt werden? Übertreiben es die Franzosen da nicht ein bisschen? Manchmal steht der Wunsch, die Kinder zu eigenständigen Persönlichkeiten zu erziehen, meinem angeborenen Bedürfnis, sie zu beschützen und mich um sie zu kümmern, entgegen.
    Französische Eltern möchten ihre Kinder auch beschützen, sind aber nicht von irgendwelchen Eventualitäten oder Kontrollfantasien besessen. Sind sie unterwegs, schreiben sie ihrem Partner nicht wie ich einmal am Tag eine Mail, um ihn daran zu erinnern, die Haustür abzuschließen und darauf zu achten, dass die Toilettendeckel zugeklappt sind (damit kein Kind hineinfallen kann).
    In Frankreich herrscht eher ein gegenteiliger sozialer Druck. Überbehütet ein Elternteil das Kind oder will es die Erfahrungen des Kindes bis ins Detail kontrollieren, wird man ihn auffordern, endlich lockerzulassen. Meine Freundin Sharon, die Literaturagentin mit den zwei Kindern, erzählt: »Bei uns in Amerika geht es darum, das Maximum aus einem Kind rauszuholen. Doch hier werden alle sagen: Du musst zulassen, dass das Kind sein eigenes Leben lebt!«
    Dass Franzosen so viel Wert auf Selbstständigkeit legen, geht auf Françoise Dolto zurück. »Das Wichtigste ist, dass das Kind innerhalb eines sicheren Rahmens so früh wie möglich selbstständig wird«, so Dolto in Les étapes majeures de l’enfance . »Die Gefahr in der Beziehung der Eltern zu ihrem Kind besteht darin, die wahren Bedürfnisse des Kindes nicht zu erkennen – und dazu gehört auch Freiheit … Das Kind hat das Bedürfnis, geliebt zu werden, egal, wie es sich entwickelt. Es möchte selbstbewusst seine Umwelt erkunden, und das in einem immer größeren Radius. Es möchte eigene Erfahrungen machen, gemeinsam mit Gleichaltrigen.«
    Dolto plädiert dafür, das Kind in einer sicheren Umgebung allein zu lassen, damit es eigenständig Dinge herausfindet. Das bedeutet auch, es als unabhängige Persönlichkeit wahrzunehmen, die Herausforderungen meistern kann. Aus Doltos Sicht sollte ein sechsjähriges Kind alles zu Hause und draußen in der Gesellschaft bewältigen können, was es direkt betrifft. 61
    Selbst für perfekt integrierte Amerikaner ist diese Einstellung schwer verdaulich. Meine Freundin Andi, eine Künstlerin, die seit mehr als zwanzig Jahren in Frankreich lebt, erzählt, dass sie von einem geplanten Klassenausflug erfuhr, als ihr Sohn sechs war.
    »Alle haben gesagt, wie toll das ist, wenn im April die classe verte stattfindet. Also habe ich gefragt, was das wohl ist. ›Oh, ein Ausflug aufs Land, ich verstehe. Eine Woche lang? Im Ernst?‹« An der Schule ihres Sohnes sind diese Ausflüge bis zur ersten Klasse freiwillig. Anschließend wird von allen 25 Schülern erwartet, dass sie jeden Frühling eine Woche lang mit ihrem Lehrer verreisen.
    Nach amerikanischen Maßstäben sei sie keine Mutter, die extrem klammere, so Andi. Trotzdem hatte sie Probleme mit der classe verte , die unweit von irgendwelchen Salzwiesen im Westen Frankreichs stattfinden sollte. Ihr Sohn hatte noch nicht mal allein auswärts übernachtet. Andi musste ihn noch jeden Abend duschen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er einschläft, ohne von ihr vorher zu Bett gebracht worden zu sein. Sie mochte seine Lehrerin, kannte aber die anderen Erwachsenen nicht, die als Begleitung mitfuhren, darunter auch die Nichte der Lehrerin sowie eine Aufsichtskraft vom Spielplatz. »Die Dritte war bloß irgendeine Bekannte der Lehrerin«, erinnert sich Andi.
    Als Andi ihren drei Schwestern in den Vereinigten Staaten von dem Ausflug erzählt, »sind die völlig ausgeflippt. ›Du musst das nicht tun!‹, haben sie gesagt. Eine ist Anwältin und wollte sofort wissen: ›Hast du irgendwas unterschrieben?‹« Andi sagt, sie hätten hauptsächlich Angst vor Pädophilen gehabt.
    Bei einem informellen Treffen wegen des Ausflugs fragte eine andere amerikanische Mutter die Lehrerin, was sie tun würde, wenn aus Versehen ein Elektrokabel in den Pool fiele, den ein Kind gerade betreten wolle. Laut Andi hätten die französischen Eltern gekichert. Sie war erleichtert,

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