Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
dass sie nicht nur ihre Kleidergröße, sondern auch ihre Persönlichkeit von vor der Schwangerschaft zurückbekommen. Zunächst einmal kleben sie nicht so an ihren Kindern. Ich habe noch keine französische Mutter gesehen, die ein Klettergerüst benutzt, mit ihrem Kind die Rutsche nimmt oder sich auf eine Wippe setzt. Französische Eltern stehen meist am Rand von Spielplatz oder Sandkasten (außer ihr Kind lernt gerade laufen) und unterhalten sich (wenn auch nicht mit mir).
In den meisten amerikanischen Haushalten mit Kindern ist jedes Zimmer mit Spielzeug übersät. Ich kenne eine Wohnung, in der die Eltern sämtliche Bücher aus den Wohnzimmerregalen geräumt und sie durch Kinderspielzeug und Spiele ersetzt haben.
Manche französischen Eltern bewahren auch einige Spielsachen im Wohnzimmer auf, aber die meisten nicht. Und wenn, dann werden die Spielsachen abends aufgeräumt und wieder ins Kinderzimmer verbannt. Die Eltern sehen darin eine gesunde Trennung, eine Chance, den Kopf freizubekommen, wenn ihre Kinder zu Bett gehen. Samia, meine Nachbarin, die ihrer Zweijährigen tagsüber eine äußerst liebevolle Mutter ist, sagt, dass sie kein Spielzeug mehr sehen will, wenn ihre Tochter zu Bett geht. »Ihre Welt ist dann auf ihr Zimmer beschränkt.«
Und nicht nur der physische Raum wird in Frankreich anders eingeteilt, sondern auch der zeitliche. Ich staune über die hier herrschende Meinung, dass gute Mütter ihren Kindern nicht ständig zur Verfügung stehen müssen und dass sie deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben brauchen. 34
Auch in amerikanischen Erziehungsratgebern kann man lesen, dass Mütter noch ein eigenes Leben haben sollten. Trotzdem höre ich von amerikanischen Vollzeitmüttern oft, dass sie sich keinen Babysitter nehmen, weil sie finden, es sei ihr Job, sich um das Kind zu kümmern.
In Paris finden es sogar nicht berufstätige Frauen selbstverständlich, ihre Kleinkinder in eine Krippe zu bringen, um etwas mehr Zeit für sich zu haben. Sie gönnen sich ganz ohne Gewissensbisse Zeitfenster, die sie für Yoga-Kurse oder Friseurbesuche nutzen. Mit dem Ergebnis, dass französische Vollzeitmütter nicht völlig erschöpft und zerzaust im Park auftauchen, so als würden sie einem eigenen Volk angehören.
Französinnen gestatten sich nicht nur Auszeiten, in denen sie sich körperlich von ihren Kindern trennen, sie tun das auch mental: In Hollywoodfilmen weiß man sofort, ob eine Heldin Kinder hat oder nicht. Denn davon handelt der Film in der Regel. Aber in den französischen Liebesfilmen oder Komödien, die ich mir manchmal heimlich gönne, scheint das Kinderhaben für den Plot keine Rolle zu spielen. In dem typisch französischen Film Les Regrets nimmt eine Kleinstadtlehrerin die Affäre mit ihrem früheren Freund wieder auf, der erneut in die Stadt kommt, als seine Mutter erkrankt. Wir bekommen vage mit, dass die Lehrerin eine Tochter hat. Aber das kleine Mädchen taucht nur kurz auf. Der Film ist überwiegend eine Liebesgeschichte mit heißen Sexszenen. Die Heldin soll keine schlechte Mutter darstellen, ihre Mutterrolle hat nur einfach keine Bedeutung für die Story.
In Frankreich lautet die vorherrschende Meinung, dass es wunderschön ist, Eltern zu sein, dass man sich aber nicht nur darauf beschränken sollte. Frauen aus meinem Pariser Bekanntenkreis fassen das in Worte, indem sie sagen, Mütter dürften sich nicht zu »Sklaven« ihrer Kinder machen. Natürlich gibt es auch Mittelschicht-Französinnen, die vollkommen in ihrer Mutterrolle aufgehen, und Amerikanerinnen, die es schaffen, das nicht zu tun. Aber das vorherrschende Ideal ist jeweils ein ganz anderes. Ich staune über die Modestrecke in einer französischen Mütterzeitschrift 35 mit der Schauspielerin Géraldine Pailhas. Die 39-jährige Géraldine ist Mutter von zwei Kindern und stellt verschiedene Muttertypen dar. Auf einem Foto raucht sie eine Zigarette, schiebt einen Kinderwagen und schaut in die Ferne. Auf einem anderen trägt sie eine blonde Perücke und liest eine Biographie von Yves Saint Laurent. Auf einem dritten trägt sie ein schwarzes Abendkleid und schwindelerregende, mit Federn beklebte Stilettos, während sie einen altmodischen Kinderwagen vor sich herschiebt.
Im dazugehörigen Artikel wird Pailhas als Ideal einer französischen Mutter beschrieben: »Im Grunde verkörpert sie die Freiheit der Frauen: Sie ist glücklich in ihrer Mutterrolle, wild auf neue Erfahrungen, perfekt in Krisensituationen und hat stets ein
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