Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
jedes Mal zuzuwinken, wenn sie vorbeisaust.
Es ist kein Zufall, dass so viele französische Mütter ihre Kinder auf diese Weise erziehen. Das Kind-Kind-sein-lassen-Prinzip stammt von Françoise Dolto. Dolto hat sich klar dafür ausgesprochen, Kinder in einer geschützten Umgebung auch mal sich selbst zu überlassen, damit sie vor sich hin wurschteln und zu eigenen Erkenntnissen kommen können.
»Warum nimmt eine Mutter ihrem Kind alles ab?«, fragt Dolto in Les étapes majeures de l‘enfance, einer Zusammenfassung ihrer Thesen. »Dabei ist es so zufrieden, wenn es Probleme selbst lösen und den Morgen damit verbringen kann, sich anzuziehen und in seine Schuhe zu schlüpfen. Es ist glücklich, seinen Pulli verkehrt herum zu tragen, sich in seiner Hose zu verheddern, zu spielen, sich in einer Ecke zu beschäftigen.«
Am französischen Nationalfeiertag nehme ich Bean mit auf die Wiese in unserem Park. Hier wimmelt es nur so von Eltern mit ihren kleinen Kindern. Ich kommentiere Beans Spiel nicht, gehe aber auch nicht davon aus, dass ich es schaffen werde, die drei Wochen alte Zeitschrift zu lesen, die ich samt einem Riesensack Bilderbüchern und Spielzeug für meine Tochter mitgenommen habe. Ich verbringe den Großteil des Tages damit, ihr beim Spielen zu assistieren und ihr vorzulesen.
Auf der Decke neben uns sitzt eine französische Mutter, eine schlanke Frau mit kupferfarbenem Haar. Sie unterhält sich mit einer Freundin, während ihre dreijährige Tochter mit – tja, mit was eigentlich spielt? Die Mutter scheint nur einen Ball dabeizuhaben. Sie picknicken, dann spielt das kleine Mädchen im Gras, wälzt sich ein bisschen hin und her und erkundet seine Umgebung. In der Zwischenzeit kann sich die Mutter ganz in Ruhe mit ihrer Freundin unterhalten.
Wir sitzen in derselben Sonne, auf demselben Rasen. Aber ich mache ein amerikanisches Picknick und sie ein französisches. Ähnlich wie die Mütter zu Hause in New York versuche ich, Bean für die nächste Entwicklungsphase fit zu machen, und bin bereit, meine eigenen Bedürfnisse dafür zurückzustellen. Die französische Mutter gibt sich damit zufrieden, dass ihre Tochter sich selbst »erweckt«. Und ihr kleines Mädchen scheint nicht das Geringste dagegen zu haben.
Auch das erklärt die rätselhafte Gelassenheit der französischen Mütter in meiner Umgebung. Aber allein das genügt nicht. Ein wichtiger Teil fehlt noch, nämlich wie Französinnen mit Schuldgefühlen umgehen.
Heutige amerikanische Mütter verbringen viel mehr Zeit mit der Betreuung ihrer Kinder als die Generation ihrer Eltern im Jahr 1965. 42 Das geht auf Kosten von Hausarbeit, Freizeit und Schlaf. Trotzdem glauben die Eltern von heute, sie sollten noch mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen.
Mit dem Ergebnis, dass sie riesige Schuldgefühle haben. Das wird mir bewusst, als ich Emily besuche, die mit ihrem Mann und ihrer anderthalb Jahre alten Tochter in Atlanta lebt. In den paar Stunden, die ich bei ihr bin, bezeichnet sie sich ein halbes Dutzend Mal als schlechte Mutter. Sie sagt das, als sie dem Flehen ihrer Tochter nach Milch nachgibt oder nicht die Zeit hat, ihr mehr als zwei Bilderbücher vorzulesen. Sie sagt es, als sie versucht, das kleine Mädchen zu einer bestimmten Uhrzeit ins Bett zu bringen oder ihr zu erklären, warum sie sie nachts manchmal kurz weinen lässt.
Ich bekomme mit, wie sich auch andere amerikanische Frauen als schlechte Mütter bezeichnen. Der Satz ist zu einer Art Mantra geworden. Emily sagt so oft »Ich bin eine schlechte Mutter«, dass ich trotz der negativen Bedeutung dieses Satzes spüre, dass sie ihn als beruhigend empfindet.
Für amerikanische Mütter sind Schuldgefühle eine Art Preis, den sie zahlen, um arbeiten, kein Biogemüse kaufen oder ihre Kinder vor den Fernseher setzen zu können… Haben wir Schuldgefühle, fällt es uns leichter, diese Dinge zu tun. Wir sind dann nämlich keine reinen Egoisten. Wir haben für unsere Verfehlungen »bezahlt«.
Französische Mütter kennen die Versuchung, sich schuldig zu fühlen. Sie fühlen sich oft genauso überlastet und unzulänglich wie wir Amerikaner. Schließlich arbeiten sie, während sie Kinder großziehen. Und genau wie wir werden sie ihren eigenen Ansprüchen meistens nicht gerecht – weder im Beruf noch als Eltern.
Mit dem Unterschied, dass französische Mütter diese Schuldgefühle nicht aufwerten. Im Gegenteil: Sie betrachten sie als ungesund und schädlich, versuchen, sie zu verbannen. »Schuldgefühle
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