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Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Titel: Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Druckerman
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und die Kinder können auch nur für einige Stunden hingehen. Aber fast jedes dreijährige Kind in Frankreich geht ganztags in die Vorschule und macht dort ähnliche Erfahrungen. Das ist Frankreichs Methode, Kleinkinder in Franzosen zu verwandeln.
    Die maternelle verfolgt erhabene Ziele. Im Grunde genommen ist sie ein nationales Vorhaben, das aus ichbezogenen Dreijährigen zivilisierte, einfühlsame Menschen machen soll. Eine vom Erziehungsministerium herausgegebene Elternbroschüre wirbt damit, dass Kinder in der maternelle »erleben, wie bereichernd, aber auch wie einschränkend die Gruppe sein kann, der sie angehören. Sie freuen sich, willkommen geheißen und erkannt zu werden, und werden nach und nach ihre Mitschüler willkommen heißen«.
    Charlotte, die seit dreißig Jahren an der maternelle unterrichtet (und sich von den Kindern charmanterweise immer noch maîtresse nennen lässt – was zugleich Lehrerin und Geliebte bedeutet), erzählt mir, dass die Kinder im ersten Jahr noch sehr egoistisch sind. »Sie verstehen nicht, dass der Lehrer für alle da ist.« Umgekehrt begreifen die Schüler nur langsam, dass das, was der Lehrer der Gruppe sagt, auch für jeden einzelnen gilt. Kinder nehmen zu dritt oder zu viert an Gruppenunternehmungen ihrer Wahl teil, entweder an getrennten Tischen oder in separaten Bereichen innerhalb des Klassenzimmers.
    Mir kommt die maternelle vor wie eine Art Kunstschule für kleine Menschen. Im Laufe von Beans erstem Jahr bedecken immer mehr Zeichnungen und Bilder der Schüler die Wände ihres Klassenzimmers. Die Fähigkeiten »wahrzunehmen, zu fühlen, zu imaginieren und zu kreieren«, sind nämlich ebenfalls zentrale Lernziele der maternelle . Die Kinder lernen außerdem aufzuzeigen, und zwar à la française , wobei sie den Zeigefinger in die Luft strecken, wenn sie etwas sagen möchten.
    Ich war nervös, als ich Bean anmeldete. Die crêche war ein einziger großer Spielplatz. Die maternelle ist schon eher so etwas wie eine Schule. Die Klassen sind groß. Und ich wurde gewarnt, dass die Eltern nur sehr wenig von dem erfahren, was dort vorgeht. Eine amerikanische Mutter erzählt mir, dass sie aufgehört habe die Lehrerin ihrer Tochter um Feedback zu bitten, als diese irgendwann verkündete: »Wenn ich nichts sage, heißt das, dass alles gut läuft«. Beans Lehrerin ist eine mürrische Frau, deren einziger Kommentar zu Bean im gesamten ersten Jahr lautet, dass sie »sehr ruhig« ist. (Bean verehrt diese Lehrerin und liebt ihre Klassenkameraden.)
    Und trotz des vielen Malens und Zeichnens wird auch großes Gewicht aufs Lernen und auf das Befolgen von Anweisungen gelegt. In Beans erstem Jahr bin ich schockiert, als ich sehe, dass die ganze Klasse meist genau dasselbe malt. Eines Morgens hängen fünfundzwanzig identische gelbe Strichmännchen mit grünen Augen im Klassenzimmer. Als jemand, der nichts zu Papier bringt, wenn er nicht einen festen Abgabetermin hat, verstehe ich das Bedürfnis der Kinder nach ein paar konkreten Vorgaben. Aber der Anblick all dieser beinahe identischen Bilder ist gruselig. (Beans Kunstwerke im zweiten Jahr spiegeln mehr Freiraum.)
    Ich brauche eine Weile, bis mir auffällt, dass in Beans Klassenzimmer nicht ein einziges Alphabet neben den Kunstwerken hängt. Auf Elternabenden kommt das Thema Lesen gar nicht vor. Stattdessen wird über das Verfüttern von Salat an die Schnecken im Klassenzimmerterrarium diskutiert. (Die Schnecken sind nicht zum Verzehr gedacht.)
    Wie ich bald merken werde, lernen die Kinder in der maternelle , die bis zu ihrem sechsten Lebensjahr dauert, tatsächlich nicht lesen. Sie lernen bloß Buchstaben, Laute und das Schreiben ihres Namens. Ich erfahre, dass einige Kinder ganz von allein lesen lernen, auch wenn ich nicht weiß, wer das sein soll, da ihre Eltern es nicht erwähnen. Das Lesenlernen steht erst in der ersten Klasse auf dem französischen Lehrplan, wenn die Kinder sieben werden.
    Diese entspannte Haltung verstößt gegen meine amerikanische Überzeugung des »Je früher, desto besser«. Aber selbst die aufstiegsorientiertesten Eltern von Beans Schulfreunden haben damit keine Eile. »Ich finde es besser, wenn sie jetzt keine Zeit mit Lesenlernen verschwenden«, so Marion, ebenfalls Journalistin. Ihr Mann und sie finden, dass es in dieser Phase wichtiger sei, dass die Kinder sich soziale Fähigkeiten aneignen und lernen, ihre Gedanken zu ordnen und sich gut auszudrücken.
    Sie haben Glück: Während das Lesen nicht in der

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