Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
irgendwann aufgeben«, prophezeien die Autoren. »Geraten Sie nicht in Panik! Sie können ihm problemlos weiterhin Milch geben, um sicherzustellen, dass es satt wird.«
Diese langfristige Herangehensweise an die Geschmacksbildung findet sich auch in Laurence Pernouds legendärem Erziehungsratgeber J’élève mon enfant . Ihr Kapitel über das Umstellen von Babys auf feste Nahrung ist mit dem Satz überschrieben: »Wie ein Kind Schritt für Schritt lernt, alles zu essen.«
»Es weigert sich, Artischocken zu essen?«, schreibt Pernoud. »Dann müssen Sie sich zunächst gedulden. Wenn Sie es ein paar Tage später wieder versuchen, mischen Sie doch einfach ein bisschen Artischocke unter sehr viel Püree«, unter Kartoffelpüree zum Beispiel.
Die Regierungsbroschüre rät Eltern auch, dieselben Zutaten in unterschiedlichen Zubereitungsarten anzubieten. »Versuchen Sie es mit Dämpfen, Backen, In-Pergamentpapier-Garen, Grillen, pur, mit Sauce oder mit Gewürzen. Ihr Kind wird verschiedene Farben, Texturen und Aromen entdecken«, so die Autoren.
Die Broschüre rät auch zu einer Gesprächstherapie à la Dolto: »Es ist wichtig, dem Kind die Angst zu nehmen und mit ihm über das neue Lebensmittel zu sprechen.« Das Gespräch über das Essen sollte über »Das mag ich« oder »Das mag ich nicht« hinausgehen. Es wird empfohlen, den Kindern ein Gemüse zu zeigen und zu fragen, »Glaubst du, das ist knusprig? Glaubst du, es macht ein Geräusch, wenn du hineinbeißt? Woran erinnert dich dieser Geschmack? Was spürst du in deinem Mund?« Die Eltern werden angeregt, Geschmacksspiele mit dem Kind zu spielen, zum Beispiel verschiedene Apfelsorten anzubieten und das Kind herausfinden zu lassen, welche die süßeste und welche die sauerste ist. Bei einem anderen Spiel verbindet man dem Kind die Augen und lässt es Nahrungsmittel essen und benennen, die es bereits kennt.
All die französischen Babybücher, die ich lese, fordern die Eltern auf, bei den Mahlzeiten gelassen und gut gelaunt zu bleiben und vor allem, den Teller stehen zu lassen, auch wenn das Kind keinen einzigen Bissen davon nimmt. »Zwingen Sie es nicht, aber hören Sie nicht auf, es ihm anzubieten«, verkündet die Regierungsbroschüre. »Schritt für Schritt wird es sich daran gewöhnen, davon probieren … und es zweifellos irgendwann zu schätzen wissen.«
Um noch besser verstehen zu können, warum französische Kinder so gute Esser sind, bin ich bei einer Menüplanung der Gemeinde dabei. Hier wird letzte Hand an die raffinierten Menüs, die jeden Montag in Beans Krippe aushängen, gelegt. Die Kommission beschließt, was die Pariser Krippen in den nächsten zwei Monaten mittags servieren werden.
Vermutlich bin ich die erste Ausländerin, die dieser Besprechung beiwohnt. Sie findet in einem fensterlosen Raum in einem Regierungsgebäude am Seine-Ufer statt. Den Vorsitz hat Sandra Merle, die Chefernährungswissenschaftlerin der Pariser Krippen. Merles Mitarbeiter sind ebenfalls anwesend sowie ein halbes Dutzend Köche, die in den Krippen arbeiten.
Die Kommission spiegelt die französischen Vorstellungen von Kindern und Essen im Kleinen wieder. Der erste Grundsatz lautet, dass es so etwas wie ein »Kinderessen« gar nicht gibt. Eine Ernährungswissenschaftlerin liest die Menüvorschläge laut vor, einschließlich aller vier Gänge, ganz so, als handele es sich um eine amtliche Bekanntmachung. Pommes kommen ebenso vor wie Chicken Nuggets, Pizza, ja sogar Ketchup. Der Menüvorschlag für Freitag lautet Blaukrautsalat und fromage blanc , gefolgt von einem Weißfisch namens colin in Dillsauce und einer Beilage aus Biokartoffeln à l’anglaise . Der Käsegang ist Coulommiers (ein Brie-ähnlicher Weichkäse). Zum Dessert gibt es einen Bio-Bratapfel. Jedes Gericht wird altersgerecht serviert, also entweder in kleine Stücke zerteilt oder püriert.
Der zweite Grundsatz der Kommission lautet: Vielfalt. Die Mitglieder streichen eine Lauchsuppe, als jemand darauf hinweist, dass die Kinder bereits in der Vorwoche Lauch gegessen haben. Merle streicht ein für Ende Dezember geplantes Tomatengericht – wieder eine Wiederholung – und ersetzt es durch einen Salat aus gekochter roter Beete.
Merle legt auch Wert auf optische und haptische Vielfalt. Hätten die Lebensmittel an einem Tag alle dieselbe Farbe, gebe es unweigerlich Klagen von den Krippenleitern. Bekämen die Älteren (also die Zwei- bis Dreijährigen) püriertes Gemüse als Beilage, sollten sie ein Stück
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