Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
Schmalz und Desserts in indischen Restaurants, die laut ihm »den Geschmack und die Konsistenz von Gesichtscremes« haben. Steingarten liest sich in die Geschmackswissenschaft ein und schließt daraus, dass das Hauptproblem an ungewohnten Nahrungsmitteln ist, dass sie ungewohnt sind. Man müsse sich ihnen deshalb nur immer wieder aussetzen, um die angeborene Abneigung zu verlieren.
Steingarten ist so mutig, jeden Tag eines seiner verhassten Nahrungsmittel zu essen. Er versucht es mit feinen Varianten: klein gehackte Sardellen in Knoblauchsauce in Norditalien, perfekt gegarte Capellini mit Muscheln in Weißweinsauce in einem Restaurant auf Long Island. Er verbringt ganze Nachmittage damit, selbst Schmalz auszulassen, und isst zehn Mal Kimchi in zehn verschiedenen koreanischen Restaurants.
Nach einem halben Jahr hasst Steingarten indische Desserts immer noch. (»Nicht jedes indische Dessert hat die Konsistenz und den Geschmack von Gesichtscreme. Ganz im Gegenteil, manche haben auch die Konsistenz und den Geschmack von Tennisbällen.«) Aber er beginnt, die meisten anderen bisher verhassten Lebensmittel zu mögen. Nach der zehnten Portion Kimchi »ist es auch zu meinem persönlichen Nationalgericht geworden«, schreibt er. Steingarten gelangt zu dem Schluss, dass kein Geruch oder Geschmack von Natur aus widerwärtig ist und dass einmal Erlerntes auch wieder verlernt werden kann.
Steingartens Experiment spiegelt die französische Herangehensweise in Sachen Kinderernährung wider: Hört man nicht auf, immer wieder von Speisen zu kosten, wird man die meisten irgendwann mögen. Dazu muss man anscheinend kein Restaurantkritiker sein. Ganz normale französische Mittelschicht-Eltern verkünden mit einem schier missionarischen Eifer, dass da draußen eine ganze Welt an köstlichen Geschmacksrichtungen wartet, die ihre Kinder schätzen lernen sollen.
Das ist nicht nur irgendein theoretisches Lernziel, das nur in der kontrollierten Krippenumgebung erreicht werden kann. Es wird tatsächlich in den Küchen und Esszimmern ganz normaler französischer Familien umgesetzt. Ich sehe das mit eigenen Augen, als ich Fanny besuche, die Zeitschriftenherausgeberin, die in einer Altbauwohnung mit hohen Decken im Osten von Paris lebt – zusammen mit ihrem Mann Vincent, der vierjährigen Lucie und dem drei Monate alten Antoine.
Fanny hat eine hübsche, rundliche Figur und einen nachdenklichen Blick. Sie kommt in der Regel gegen sechs von der Arbeit und serviert Lucie um halb sieben das Abendessen, während Antoine in einer Liegewippe sitzt und an seinem Fläschchen nuckelt. Unter der Woche essen Fanny und Vincent gemeinsam, wenn die Kinder schlafen.
Fanny sagt, sie mache nur selten etwas so Aufwändiges wie gedünstete Endivien mit Mangold, die Lucie aus der crêche kennt. Trotzdem betrachtet sie jedes Abendessen als Teil von Lucies kulinarischer Erziehung. Sie macht sich weniger Sorgen darum, wie viel Lucie isst, sondern besteht darauf, dass sie zumindest von allem auf ihrem Teller probiert.
Deshalb bekommen auch alle dasselbe Essen. Es gibt keine Wahlmöglichkeiten oder Alternativen. »Ich frage nie, ›Was willst du?‹ Ich sage, ›Heute gibt es das und das‹«, so Fanny. »Isst Lucie ein Gericht nicht auf, ist das in Ordnung. Aber wir essen alle das Gleiche.«
Amerikanische Eltern finden vielleicht, dass man sich damit zum rücksichtslosen Herrscher über den hilflosen Nachwuchs aufspielt. Fanny dagegen glaubt, dass es Lucie mental stärkt. »Sie fühlt sich erwachsener, wenn wir alle zusammen und das Gleiche essen.«. Laut Fanny staunen amerikanische Besucher, wenn sie Lucie beim Essen sehen. »›Wie kommt es, dass eure Tochter schon Camembert, Gruyère und Chèvre auseinanderhalten kann?‹, fragen sie dann.«
Fanny versucht auch, das Essen amüsant zu gestalten. Lucie kann schon Kuchen backen, weil ihre Mutter und sie an den meisten Wochenenden gemeinsam backen. Fanny lässt Lucie auch beim Abendessen mithelfen, beim Zubereiten oder Tischdecken. »Wir unterstützen sie, gestalten die Sache aber spielerisch. Und das jeden Tag«, erzählt sie.
Sitzen alle am Tisch, hebt Fanny streng den Finger und befiehlt Lucie, von allem zu kosten. Man spricht über das Essen. Oft wird der Geschmack jeder einzelnen Käsesorte diskutiert. Und da Lucie an der Zubereitung des Essens beteiligt war, ist sie auch neugierig, wie es schmeckt. Es herrscht eine Art Komplizenschaft. Misslingt ein Gericht, »lachen wir gemeinsam darüber«, so
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