Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
Simon und mir abgeschaut.) Die Unterschiede treten deutlicher zutage, als sie anfangen zu sprechen. Leo, der Dunklere, spricht bis auf das eine oder andere seltsame Wort monatelang gar nicht. Dann wendet er sich eines Abends beim Essen an mich und sagt mit einer roboterartigen Stimme: »Ich bin beim Essen.«
Es ist kein Zufall, dass Leo als Erstes die Verlaufsform des Präsens erlernt hat. Er lebt in der Verlaufsform Präsens. Er ist in ständiger Bewegung, und das sehr schnell. Er geht nicht, er rennt. Ich kann an der Geschwindigkeit der Schritte erkennen, wer gerade kommt.
Joeys bevorzugte grammatische Form ist das Possessivpronomen: mein Kaninchen, meine Mommy. Er bewegt sich so langsam wie ein alter Mann, weil er immer versucht, seine wichtigsten Besitztümer mit sich herumzuschleppen. Diese variieren, aber es sind immer sehr viele. (Einmal schläft er mit einem kleinen Küchenquirl ein.) Irgendwann steckt er alles in zwei Köfferchen, die er von Zimmer zu Zimmer trägt. Leo nimmt sie ihm gerne weg und rennt davon. Müsste ich unsere Jungen mit einem Satz beschreiben, würde ich sagen, der eine ist ein Nehmer, der andere ein Sammler.
Beans bevorzugte grammatische Form ist nach wie vor die Befehlsform. Wir können nicht länger ihre Erzieher dafür verantwortlich machen. Es gefällt ihr einfach, Befehle zu erteilen. Simon nennt sie nur noch »die Gewerkschaftsführerin«: »Die Gewerkschaftsführerin möchte gern Spaghetti zum Abendessen.«
Es war schon schwer genug, Bean französisches Benehmen beizubringen, als sie das einzige Kind in unserer Familie war. Jetzt, wo die Erwachsenen bei uns zu Hause in der Minderheit sind, fällt es noch schwerer, für etwas französischen cadre zu sorgen, ist aber umso wichtiger. Gelingt es uns nicht, die Kinder zu kontrollieren, werden sie uns kontrollieren.
Ein Bereich, in dem wir sichtbare Erfolge erzielen, ist das Essen. Das Essen ist etwas, worauf die Franzosen selbstverständlich sehr stolz sind und über das sie gerne reden. Meine französischen Kollegen in dem Gemeinschaftsbüro, in dem ich einen Schreibtisch gemietet habe, reden beim Mittagessen hauptsächlich darüber, was es am Vorabend bei ihnen gegeben hat. Geht Simon mit seiner französischen Fußballmannschaft nach dem Training auf ein Bier, wird dabei angeblich über Essen und nicht über Frauen geredet.
Wie französisch die Essensangewohnheiten unserer Kinder sind, wird deutlich, als wir nach Amerika fliegen. Meine Mutter freut sich riesig, Bean den amerikanischen Klassiker Kraft Maccaroni and Cheese vorstellen zu können. Aber Bean weigert sich, mehr als ein paar Bissen davon zu essen. »Das ist kein Käse!«, sagt sie.
Wir sind im Urlaub, wenn wir nach Amerika reisen, deshalb gehen wir häufig auswärts essen. Der Vorteil ist, dass amerikanische Restaurants deutlich kinderfreundlicher sind als französische. Es gibt so ausgefallene Annehmlichkeiten wie Hochstühle, Buntstifte und Wickeltische auf den Toiletten. (Manchmal gibt es diese Dinge auch in Paris, aber so gut wie nie alle drei auf einmal.)
Aber so langsam beginne ich, mich vor den allgegenwärtigen »Kindermenüs« in amerikanischen Restaurants zu fürchten. Egal, welches Lokal wir aufsuchen, sei es nun ein Fischrestaurant, ein italienisches oder kubanisches Lokal, das Kindermenü ist mehr oder weniger überall das gleiche: Hamburger, Chicken Nuggets, Pizza, vielleicht noch Spaghetti. Es gibt so gut wie nie Gemüse, außer man zählt Pommes oder Kartoffelchips zu dieser Kategorie. Manchmal gibt es Obst. Nicht nur die Restaurants behandeln Kinder, als hätten sie noch keine voll entwickelten Geschmacksknospen. Bei einem Heimataufenthalt melde ich Bean für ein paar Tage zu einem Tenniscamp an, wo auch zu Mittag gegessen wird. Das Mittagessen entpuppt sich als Weißbrot mit zwei Scheibletten in einer Tüte. Sogar Bean, die am liebsten ausschließlich Nudeln oder Hamburger essen würde, ist entsetzt. »Morgen gibt es Pizza!«, flötet einer der Trainer.
In Amerika ernähren sich viele Kinder (unterstützt von ihren Eltern) jahrelang nach einer Art Mono-Diät. Der Sohn einer Freundin in Atlanta isst nur weiße Lebensmittel wie Reis und Nudeln. Ihr anderer Sohn isst nur Fleisch. Der kleine Neffe einer anderen Freundin in Boston sollte in der Weihnachtszeit von der Muttermilch auf feste Nahrung umgestellt werden. Als sich der Junge weigert, etwas anderes als in Alufolie gehüllte Schokonikoläuse zu essen, horten seine Eltern Unmengen davon, weil sie
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