Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?
denn mit uns im Abteil?
Keine Ahnung.
Gut. Vielleicht ist das die falsche Frage. Kannst du mir die Namen der Stationen sagen, an denen wir angehalten haben?
Äh, nein.
Wenigstens eine?
Nein, keine.
Aber wenn ich dir gesagt hätte, du sollst dir die Leute merken, die zu uns in den Wagen kommen, dann hättest du dir den Mann mit dem Fahrrad gemerkt.
Bestimmt, Papa.
Und wenn ich gesagt hätte, versuch doch mal, dir die Stationen zu merken, dann würden dir jetzt welche einfallen?
Ja, bestimmt. Mindestens zwei oder drei. Vielleicht auch noch mehr.
Aber da ich das nicht gesagt habe, kannst du dich an ganz vieles nicht mehr erinnern. Und das, obwohl du die Leute im Abteil gesehen hast und die Namen der Stationen gehört hast …
Ja, aber ich habe sie mir nicht gemerkt. Sie sind mir nicht aufgefallen.
Das stimmt. Was einem nicht auffällt, das merkt man sich auch nicht. Obwohl man es gesehen und gehört hat. Dein Gehirn hat sie sogar fest gespeichert. Dein Gehirn speichert nämlich alles, was du siehst, hörst, riechst, schmeckst und anfühlst. Aber du kommst nicht heran. Du kannst es dir vorstellen wie eine Schublade, die man nicht aufkriegt. Die Sachen sind drin, aber man kann nicht darauf zugreifen. Das liegt tatsächlich an deiner Aufmerksamkeit. Weißt du eigentlich, dass manchmal die verrücktesten Sachen passieren können, ohne dass man es merkt?
Ist unsere Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache konzentriert, dann kann es passieren, dass unser Gehirn gar nichts anderes mitbekommt. Dabei können um uns herum völlig abstruse Dinge geschehen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist das Experiment zweier amerikanischer Forscher vor etwa zehn Jahren. Sie versammelten viele Zuschauer in einem Raum. Dann zeigten sie ihnen einen Film. In dem Film konnte man sehen, wie zwei Mannschaften Ball spielten. Die eine Mannschaft war in weiße Trikots gekleidet und die andere Mannschaft in schwarze Trikots. Beide Mannschaften warfen sich den Ball in den eigenen Reihen zu, wobei der Ball immer einmal auf dem Boden aufsprang, etwa so, wie man sich den Ball beim Basketball zuspielt. Die Forscher forderten die Zuschauer auf zu zählen, wie oft der Ball innerhalb der weißen Mannschaft aufspringt. Besonders schwer war das nicht. Die Leute konzentrierten sich immer auf den Ball und zählten mit: Eins, zwei, drei, vier, fünf … Als der Film zu Ende war, fragten die Forscher die Zuschauer, wie oft der Ball aufgesprungen war. Und da die Leute sich gut konzentriert hatten, nannten sie fast alle die richtige Zahl.
Die Zuschauer waren sehr stolz, dass sie alles richtig gemacht hatten. Aber die Forscher stellten ihnen noch eine andere Frage: Ist euch während des Zählens noch irgendetwas Besonderes aufgefallen? Die meisten Leute schüttelten den Kopf. Etwas Besonderes aufgefallen? Nein, wieso? Was war denn da Besonderes? Sie hatten zwei Mannschaften gesehen, eine schwarze und eine weiße und einen Ball, der zwischen den Spielern aufsprang. Mehr nicht.
Da ermunterten die Forscher die Leute, sich den Film ein zweites Mal anzuschauen. Aber dieses Mal sollten sie nicht zählen, wie oft der Ball aufspringt. Sie sollten sich stattdessen ganz entspannt auf den Film konzentrieren. Plötzlich schrien die Zuschauer auf. Auf dem Spielfeld zwischen den Mannschaften irrte auf einmal ein Gorilla herum! Der Gorilla schlappte in die Mitte des Spielfeldes und trommelte sich auf die Brust. Natürlich war es kein echter Gorilla, sondern eine Frau in einem Gorillakostüm. Aber das Verblüffende war doch, dass es der gleiche Film war wie vorher. Und beim ersten Sehen, als jeder auf das Zählen konzentriert war, hatte kaum einer den Gorilla gesehen!
Die Forscher machten nun noch einen zweiten Versuch. Dafür suchten sie neue Zuschauer. Sie gaben ihnen den gleichen Auftrag wie der Gruppe zuvor: Ihr müsst zählen, wie oft der Ball aufspringt! Die Leute in der zweiten Gruppe sollten sich aber auf den Ball in dem Team mit den schwarzen Trikots konzentrieren. Und dieses Mal war das Ergebnis ein anderes. Nur ein Drittel der Zuschauer übersah den Gorilla. Die verkleidete Frau sprang den Zuschauern der schwarzen Mannschaft deshalb eher ins Auge, weil das Gorillakostüm auch schwarz war. Die Zuschauer aus der ersten Gruppe aber hatten sich auf den Ball und alles, was weiß war, konzentriert und hatten den schwarzen Gorilla glatt übersehen.
Kannst du dir das vorstellen, Oskar, dass man etwas so Spektakuläres wie einen Gorilla glatt übersehen kann?
Nicht so
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