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Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?

Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?

Titel: Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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diesem Sommertag voller Menschen. Die Stadt ist bevölkert von Touristen, und wir schauen dem munteren Treiben eine Weile zu. Plötzlich fällt mir eine Frage ein. Denn Oskar will immer wissen, was größer und besser ist und was am zweitgrößten und so weiter. Auch jetzt soll es darum gehen, was besser ist. Aber da es sich um eine philosophische Frage handelt, kann man diesmal nicht einfach nur zählen und messen. Wenn ich » besser« meine, meine ich nämlich nicht größer, sondern ich will wissen, was seiner Ansicht nach » richtiger« ist.
Also Oskar, stell dir mal folgende Situation vor: Schau mal auf das Gleis da vorne, wo die fünf Arbeiter gerade die Schienen ausbessern. Und jetzt stell dir vor, bei dem Waggon, der da vorne steht, löst sich die Bremse. Er fährt an und rast völlig außer Kontrolle über das Gleis direkt auf die fünf Gleisarbeiter zu. Kannst du dir das vorstellen?
Klar, Papa.
Gut, du siehst den führerlosen Wagen heransausen. Jetzt stellen wir uns dazu vor, am Gleis da drüben gäbe es eine Weiche …
Aber da ist doch gar keine Weiche.
Nein, aber wir stellen uns das jetzt mal so vor, als ob es eine gäbe. Und daneben ist der Schaltkasten. Wenn du auf einen Knopf drückst, wird die Weiche umgestellt. Du könntest jetzt also ganz schnell drücken und die Weiche nach rechts umstellen. Und damit könntest du das Leben der fünf Männer in letzter Sekunde retten. Der Wagen würde dann auf das Nebengleis umgeleitet. Die Sache hat aber einen Haken. Wenn der Wagen nach rechts abbiegt, überfährt er ebenfalls einen Gleisarbeiter – allerdings nur einen einzigen. Was würdest du tun?
Ich würde rufen und schreien, dass die da weggehen sollen, die Gleisarbeiter.
Gute Idee. Aber hör mal! Hier ist es so laut, da würde dich keiner da unten hören.
Stimmt, Papa.
Nun, was würdest du tun?
(Oskar zögert lange) Also, dann würde ich die Weiche umstellen. Aber nur, wenn es gar nicht anders geht. Weil fünf Menschen, die sind ja mehr wert als einer.
    Während unseres Gespräches sind wir langsam die Treppen hochgestiegen. Über drei Stockwerke geht es nach oben. Von hier hat man einen guten Blick durch den ganzen Bahnhof. Vorsichtig schauen wir über das Geländer bis ganz nach unten auf die Gleise des Tiefbahnhofs.
Hör mal, Oskar, ich habe noch eine zweite Frage. Du sagst doch, fünf Menschenleben sind wichtiger als eines.
Ja, das habe ich gesagt.
Jetzt stell dir die gleiche Situation bitte noch einmal vor. Wieder rollt da unten der führerlos gewordene Waggon heran. Und wieder rast er auf die fünf Gleisarbeiter zu. Diesmal aber stehst du nicht an der Weiche. Du stehst hier oben auf einer Art Brücke über dem Gleis. Wie kannst du den Wagen bloß stoppen?
Ich könnte etwas aufs Gleis werfen. Um den Wagen aufzuhalten.
Das müsste aber etwas sehr Großes sein, Oskar. Und hier ist weit und breit nichts, was du da runterwerfen könntest. Es sei denn …
Was, Papa?
Na, guck mal neben uns der dicke Mann. Wenn wir den ganz kräftig schubsen würden, dann fällt er über das Geländer, und wahrscheinlich fällt er direkt aufs Gleis und vor den Wagen. Sein schwerer Körper würde den heranrasenden Eisenbahnwagen aufhalten. Und die fünf Gleisarbeiter wären gerettet. Würdest du das tun?
Dafür bin ich nicht stark genug.
Ich könnte dir ja helfen. Aber du musst entscheiden …
Papa, nein! Das ist Mord!
Ja, aber vorhin hast du gesagt, du würdest die Weiche umstellen, dabei stirbt ja auch ein Gleisarbeiter. Und dieses Mal sagst du, das wäre Mord. Aber das Ergebnis ist doch beide Male das Gleiche. Einer muss sterben, damit fünf überleben.
Nein, das ist nicht das Gleiche. Weil es ist ein supermieses Gefühl, einen da runterzuschubsen. Man will ja auch nicht, dass irgendjemand anderes einen selbst schubst.
Ja, das verstehe ich. Aber ich bleibe dabei. Bei der Weiche und beim Schubsen ist es beides Mal die Frage: Stirbt einer oder sterben fünf. Wäre es da nicht gerecht, das Gleiche zu tun?
Papa, wie würdest du das denn machen? Würdest du den dicken Mann schubsen?
Äh, nein!
Und warum nicht? (Oskar freut sich diebisch) Es ist doch einer oder fünf?
Weil es auch für mich ein mieses Gefühl ist, den Mann zu schubsen. Ich kann ja noch nicht mal eine Wespe erschlagen, ohne dass sie mir leidtut.
Ich auch nicht, Papa.
Willst du wissen, Oskar, wie sich die meisten anderen Menschen entscheiden? Ob sie die Weiche umstellen und ob sie schubsen würden?
    Die beiden Fragen, ob man eine Weiche umstellen oder einen dicken

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