Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?
Charité noch außerhalb der Stadtmauern. Denn in der Stadt wollte gewiss niemand die Pestkranken haben. Doch die Berliner hatten Glück. Die Pest zog an der Stadt vorbei. Und aus dem Lazarett wurde ein ordentliches Krankenhaus mit dem Namen Charité. Das Krankenhaus gehörte bald zu den besten und berühmtesten Kliniken in Europa. An der Charité gab es viele berühmte Ärzte wie Christoph Wilhelm Hufeland, Rudolf Virchow oder Ferdinand Sauerbruch. Robert Koch entdeckte hier den berühmten Tuberkel-Bazillus, den Erreger der gefürchteten Tuberkulose. Aus dieser Zeit, Ende des 19 . Jahrhunderts, stammen auch die vielen roten Backsteingebäude mit ihren Zinnen und Türmchen.
Ein Krankenhaus ist eigentlich ein Ort der Pflege und des Friedens, aber das Thema, das ich für Oskar vorbereitet habe, hat es in sich. Es ist nämlich ganz schön grausam, dramatisch und vielleicht auch gemein. Ich erzähle ihm heute die Geschichte meiner Tante Bertha …
Oh, meine Tante Bertha! Was für eine schreckliche alte Schachtel. Ihr ganzes Leben lang hat sie die Familie gequält mit ihrer ekelhaften Art. Kinder hat sie keine, Gott sei Dank. Dafür kriegten ihre Nachbarn ihre Launen zu spüren, ein jahrzehntelanges Theater um die Grundstücksgrenze und um ihren Hund, der überall in den Nachbarsgarten hinkackte. Überhaupt, der Hund! Ein kleiner bissiger Kläffer, den sie immer auf den Briefträger losgelassen hat. Ja, die widerliche Bertha.
Was ich noch vergessen habe: Sie ist reich. Steinreich sogar. Albert, ihr früh verstorbener Ehemann, hat ihr ein stattliches Vermögen hinterlassen. Und sie hat es gut angelegt: Immobilien, Wertpapiere, Aktien. Großtante Bertha verfügt über Millionen. Und was das Beste daran ist: Ich bin ihr Erbe. Leider hat die alte Bertha eine Pferdenatur. Sie ist gerade erst siebzig und kerngesund. Sie trinkt keinen Alkohol und raucht nicht. Sie macht sich noch nicht einmal was aus Torte. Tante Bertha macht sich aus gar nichts etwas, außer aus Geld. Die wird gut und gerne neunzig oder hundert. Doch wenn sie tatsächlich hundert wird, bin ich über siebzig. Wer weiß, was ich dann treibe und ob ich ihr Geld überhaupt noch brauchen kann. Manchmal wünsche ich mir, die olle Bertha würde morgen sterben. Oder noch besser: schon heute.
Stellen wir uns einmal vor, die alte Bertha müsste ins Krankenhaus, wegen irgendeiner Kleinigkeit, nichts Gefährliches. Zufällig kenne ich einen der Oberärzte, er ist ein sehr guter Freund von mir. Noch am selben Tag besuche ich ihn. Er zeigt mir die Abteilung, in der er arbeitet, die Station für krebskranke Kinder. Der Besuch ist schrecklich. Lauter kleine Menschen, von denen viele schon sehr früh sterben müssen. Wenn man sich die Kinder anschaut, die hier in ihren Bettchen liegen oder miteinander spielen, als ob nichts wäre, schießen einem die Tränen in die Augen. Die Abteilung braucht dringend sehr viel Geld für neue medizinische Geräte, damit die Kleinen eine bessere Chance bekommen zu überleben.
Am Abend sitzen der Oberarzt und ich miteinander in seinem Zimmer. Ich bin noch immer tief erschüttert. Nach einiger Zeit erzähle ich ihm von Tante Bertha, die auf einer anderen Station hier in der Charité liegt. Ich erzähle von ihrem vielen Geld und davon, dass ich ihr Erbe bin.
» Wäre es nicht möglich«, frage ich ihn, » dass man Tante Bertha etwas ins Essen mischt …?«
» Wie meinst du das?«, fragt er mich.
» Na«, sage ich, » ein tödliches Medikament, das nach nichts riecht und nach nichts schmeckt. Ein Gift, das Tante Bertha tötet, ohne dass sie irgendetwas davon merkt. Etwas, das sie einfach sanft entschlummern lässt. Gibt es so etwas?«
» Jaja«, sagt mein Freund, der Oberarzt, » so etwas gibt es durchaus. Aber worauf willst du eigentlich hinaus …?«
» Nun, ganz einfach«, sage ich. » Wenn wir Tante Bertha auf diese Weise schmerzlos töten, ohne dass sie etwas davon mitbekommt und ohne dass sie leidet, dann tun wir eigentlich gar nichts besonders Schlimmes. Doch wenn sie tot ist, erbe ich ihre Millionen. Dabei habe ich gar nicht vor, das Geld zu behalten. Ich möchte es dir spenden für deine Kinderstation im Krankenhaus, damit ihr davon neue medizinische Geräte anschafft …«
» Du meinst, wir sollten einen Mord begehen?«, unterbricht er mich.
» Na ja, ich würde es anders sagen. Etwas philosophischer. Ich habe mir Folgendes überlegt: Wann ist eine Sache gut? Ganz einfach: wenn sie Menschen glücklich macht. Und wann ist eine
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