Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?
Sache schlecht? Wenn sie Menschen unglücklich macht! Ist das richtig?«
» Ja, vielleicht. Das klingt nicht falsch.«
» Und wenn ich jetzt etwas tue, was nur einen Menschen unglücklich macht, aber tausend Menschen glücklich, darf ich es dann tun?«
» Also, ich weiß nicht recht …«
» Wenden wir unsere philosophische Überlegung mal auf Tante Bertha an: Glück ist gut, und Leiden ist schlecht. Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass meine Tante überhaupt kein Glück in die Welt bringt. Sie stiftet, wenn überhaupt, nur Leiden, zum Beispiel bei den Nachbarn und bei dem armen Briefträger. Das Geld, das sie auf der Bank hat, tut auch nichts Gutes. Aber wenn ich das Geld der Charité stifte, ermögliche ich damit sehr viel Glück. Alles, was man tun muss, um diesen Traum wahr zu machen, ist … Nein, ich darf nicht nur – ich muss Tante Bertha umbringen! Bin ich nicht sogar dazu verpflichtet, die alte Schachtel zu beseitigen? Wer weiß, vielleicht erspart ihr dein tödliches schmerzloses Medikament sogar einen viel schlimmeren schmerzhaften Tod? Niemand weint ihr eine Träne hinterher. Und das ist noch viel zu freundlich gesagt. Wer würde sich nicht alles freuen, wenn die widerwärtige Knusperguste erst mal nicht mehr da ist? Die Nachbarn haben endlich ihre Ruhe und ihren sauberen Garten. Und der Briefträger darf hoffen, dass nun nettere Menschen in das Haus einziehen. Ist die Sache damit nicht klar und eindeutig …?«
Was meinst du, Oskar? Sollte man Tante Bertha töten?
Sterben sonst die Kinder im Krankenhaus?
Na ja, vielleicht stirbt das eine oder das andere Kind, das sonst nicht sterben müsste.
Dann, Papa, ist es ganz vielleicht in Ordnung, dass die Tante Bertha das Medikament bekommt. Aber wenn es nicht den Kindern im Krankenhaus hilft, dann dürfte man es nicht tun.
Es gibt also, meinst du, Ausnahmen, bei denen es gerechtfertigt ist, dass man einen Menschen tötet?
Ja, in Notwehr zum Beispiel. Wenn jemand mich töten will. Oder wenn ein Bandit jemand anderen töten will, und ich hätte eine Waffe – dann dürfte ich den Banditen erschießen.
Aber wenn, wie bei Tante Bertha, jeder selbst entscheiden und sagen darf: Diesen Menschen hier oder den da, den darf ich töten, weil er niemandem Glück bringt, was glaubst du, würde dann passieren …?
Dann gäbe es Krieg. Oder so etwas Ähnliches. Und alle müssten damit rechnen, dass jemand sie umbringt …
Und meinst du, Oskar, dies wäre ein großes Problem?
Ein sehr großes. Dann gäbe es bald keine reichen Männer oder Frauen mehr. Und der, der jemanden umbringt, weil der kein Glück bringt, müsste damit rechnen, dass er vielleicht auch umgebracht wird.
Was, meinst du, können wir daraus lernen?
… dass man ganz, ganz vielleicht doch nicht die Tante Bertha umbringen sollte.
Ich glaube, Oskar und ich sind uns einig. Denn wenn ich Tante Bertha töte, um damit krebskranken Kindern zu helfen, dann droht damit großes Unheil. Millionen Menschen: Erbtanten, Widerlinge, reiche Leute und auch viele Strafgefangene oder geistig Behinderte ohne Angehörige müssten damit rechnen, jederzeit schmerzlos im Schlaf getötet zu werden. Was für eine Panik bräche damit in der Gesellschaft aus? Und wie viel Unruhe und Unheil stiftete diese Panik unter den Menschen? Gut, vielleicht hätte ich Glück und mein Mord an Tante Bertha flöge tatsächlich nicht auf. Aber wenn ich mein Handeln als gerecht empfinden würde, dann müsste es immer in Ordnung sein. Und wenn es immer in Ordnung wäre, dann gälte das auch für jedermann. Und wer weiß, ob es nicht eines Tages auch mich selbst treffen könnte, und meine Neffen dächten das Gleiche über mich wie ich über Tante Bertha. Auch ich selbst könnte meines Lebens nicht mehr sicher sein. Leid und Freud wie bei einer Rechenaufgabe zusammenzuzählen, um danach Entscheidungen über Leben und Tod von Personen zu fällen, geht also nicht.
Beim Blick auf das Bettenhaus finden Oskar und ich es ziemlich beruhigend, dass in unserem Land niemand Angst davor haben muss, heimlich von einem Arzt im Schlaf getötet zu werden, damit sein Geld für einen guten Zweck verwendet werden kann. Und so kommen wir zu unserer nächsten philosophischen Einsicht.
Den Wert, den das Leben eines Menschen hat, kann man nicht danach messen, wie nützlich dieser Mensch ist. Denn jede Person hat ein uneingeschränktes Recht auf Leben.
Dass wir uns normalerweise daran halten und andere Menschen achten, hat etwas damit zu tun, dass wir nicht
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