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Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?

Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?

Titel: Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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geben, zeigten sie auf einen Korb mit Bonbons vor der Eingangstür. Jedes der Kinder dürfe sich ein einziges Bonbon daraus nehmen. Dann gingen die Frauen zurück ins Haus. Die Kinder blieben nun mit dem vollen Bonbonkorb alleine zurück. Was würden sie tun? Würden sie die Situation ausnutzen und sich die Taschen mit den unbewachten Bonbons vollstopfen?
    Nun, der Bonbonklau hing von etwas Besonderem ab. Bei manchen Häusern war hinter dem Bonbonkorb ein großer Spiegel angebracht worden. Und bei anderen Häusern nicht. Wenn die Kinder sich Bonbons in die Tasche stecken wollten, sahen sie sich dabei bei einigen Häusern im Spiegel.
    Und das Ergebnis? Wenn sich die Kinder beim Klauen selbst beobachten mussten, schreckten sie häufig zurück. Fehlte der Spiegel, wurden dagegen ziemlich oft viele Bonbons geklaut.
Was hältst du davon, Oskar?
Ich würd sowieso nicht klauen.
Kannst du dir denn vorstellen, dass das ein Unterschied ist, wenn du dabei in den Spiegel guckst, oder nicht?
(zögert) Ich hab das ja noch nie gemacht, ich kann mir das wirklich nicht so gut vorstellen.
Denk dir, du bist eines von diesen Kindern. Und alle anderen stopfen sich die Taschen voll. Würdest du das dann wirklich als Einziger nicht tun?
Ich überleg noch mal, Papa. (Denkt nach). Ich glaube, ich würde die anderen ermahnen. Aber nicht verpetzen.
Weil das auch ein mieses Gefühl ist, andere zu verpetzen?
Verpetzen ist ganz blöd, Papa!
Und du bist ganz, ganz sicher, dass du auf gar keinen Fall …?
Auf gar keinen Fall würd ich nicht sagen.
Auf welchen Fall vielleicht doch? Wenn du ganz sicher wärest, dass du nicht erwischt wirst und alle anderen Kinder auch klauen? Vielleicht sogar ganz viel?
Aber ich würde nur ganz wenige Bonbons nehmen. Wenn überhaupt. Weil klauen – da nimmst du ja anderen Sachen weg. Die wollen die ja selber haben. Und die sind dann traurig, weil das doch ihre Sachen sind. Und deshalb wäre das eben dieses miese Gefühl, wenn man klaut.
Beschreib mal dieses miese Gefühl.
Dann merkt man in sich drin, dass man was Schlechtes gemacht hat.
Warum ist das so schlimm?
Dann ist man traurig in sich drin. Dann kann man sich vorstellen, wie es einem geht, wenn einem die Süßigkeiten selber geklaut werden.
Es gibt Menschen, die dieses Problem nicht haben. Aber dem Papa geht es genauso wie dir, Oskar. Ich habe mal einen Halbedelstein geklaut von anderen Kindern. Einen kleinen Amethyst. Den fand ich so schön, und dann hab ich ihn heimlich in die Tasche gesteckt. Da war ich zehn Jahre. Ich hab den Stein heute immer noch. Aber immer wenn ich ihn sehe, dann denke ich nicht: Ist der schön! Ich denke: Der gehört mir eigentlich nicht. Der gehört zwei Jungen, mit denen ich früher gespielt habe. Und ich hab den geklaut.
    Ich glaube, wir haben eine Menge gelernt. Erstens ist es nicht gut zu klauen, denn wenn das jeder macht, wird keiner mehr seines Lebens froh. Wenn jeder sich daran vorbeimogelt, im Schwimmbad zu bezahlen, bekommt die Stadt kein Geld. Und irgendwann muss das Schwimmbad geschlossen werden.
    Wir haben aber noch etwas anderes gelernt. Wenn man sich beim Klauen selbst beobachtet, denkt man viel mehr darüber nach, was man da eigentlich tut. Das heißt, es ist schwerer zu verdrängen, dass man gerade etwas Falsches tut.
    Das Dritte, das wir gelernt haben, ist: Wenn andere etwas tun, was falsch ist, dann finden wir es nicht mehr so schlimm, selber etwas Falsches zu tun. Obwohl es eigentlich genau das Gleiche ist, ob ich alleine klaue oder genauso klaue wie andere. Es ist und bleibt Klauen. Aber man findet es weniger schlimm.
    Warum? Weil man sich immer mit den anderen vergleicht. Du, Oskar, hast gesagt, du würdest nicht klauen. Und wenn alle anderen es tun, wahrscheinlich auch nicht. Nur ganz, ganz vielleicht. Und dann würdest du weniger klauen als die anderen. Das hilft dir, dich besser zu fühlen, obwohl du etwas Falsches getan hast.
    Das » miese Gefühl« beim Klauen kommt übrigens daher, dass man über sich selbst nachdenken kann. Man macht sich dabei ein Bild von dem, was man für ein Mensch ist. Die meisten Menschen möchten gerne gute Menschen sein – auch wenn sie oft vielleicht gar nicht so gut sind, wie sie selbst glauben. Eben weil sie das, was sie tun, verdrängen. Oder sich mit anderen vergleichen und sagen: Im Vergleich zu dem und im Vergleich zu dem bin ich doch gar nicht so übel …
    Unsere nächste philosophische Einsicht lautet:
    Menschen können über sich selbst nachdenken. Sie haben ein Bild

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