Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?
Millionen Euro!
Ein Grund für ihren Wert ist der gute Erhaltungszustand der Büste, der nur das linke Auge fehlt. Aber das ist natürlich nicht alles. Denn um den Kalksteinkopf der Pharaonin ranken sich viele Geschichten, Mythen und Legenden. Schon ihr Name weist auf ihre sagenhafte Schönheit hin. » Nofretete« heißt nämlich – » Die Schöne ist gekommen«.
Das schlanke Gesicht der Ägypterin mit den hohen Wangenknochen und den ebenmäßigen Gesichtszügen faszinierte seither viele Menschen. Kaiser Wilhelm II . ließ für seine Privaträume eine Kopie der Büste anfertigen. Und als er nach dem Ersten Weltkrieg abdanken musste, nahm er sie mit in die Niederlande ins Exil. Auch Adolf Hitler war von Nofretete so begeistert, dass er sich eine Kopie machen ließ. Und einige meinen sogar, die Büste im Neuen Museum sei gar nicht das Original, sondern selbst eine Kopie …
Nun wird es aber Zeit, dass wir in den Saal dürfen, um Nofretete endlich von Nahem zu sehen. Nur noch wenige Minuten, und dann ist es so weit. Ehrfürchtig treten Oskar und ich zu dem Glaskasten in der Mitte des Raumes, in dem sie ausgestellt ist.
Nun, Oskar, wie findest du sie?
Nicht so besonders.
Sie gefällt dir nicht?
Doch schon. Aber so ganz besonders finde ich die nicht.
Aber alle sagen, dass sie so unheimlich schön ist.
(Oskar überlegt) Mama ist viel schöner!
Einige Zeit später sind wir wieder auf der Straße. Wir machen noch einen Spaziergang von der Museumsinsel zur Straße » Unter den Linden«. Auf der anderen Straßenseite ist eine riesige Grünfläche. Hier stand früher einmal das Stadtschloss und später, zu Zeiten der DDR , der Palast der Republik. Jetzt steht dort ein provisorisches Gebäude, die » Humboldt Box«. Wenn man mit dem Fahrstuhl nach oben fährt, hat man von dort einen phantastischen Blick über die Stadt. Wir setzen uns auf die Terrasse, trinken etwas und genießen die Aussicht.
Ich komme noch mal auf die Nofretete zurück. Du findest sie also nicht schön.
Nicht sooo schön, Papa.
Was gefällt dir denn? Zum Beispiel die vielen Gebäude hier, sagen wir, die Kirchen. Welche von denen findest du schön?
(Oskar überlegt) Am schönsten finde ich die Synagoge.
Warum? Was hat sie, was die anderen Kirchen nicht haben?
Weil die so was Goldenes hat. Am zweitschönsten ist der Dom, dann die Zionskirche, dann die Sophienkirche und dann die anderen. Und welche Kirchen findest du am schönsten, Papa?
Hmmm. Ich glaube, auch die Synagoge und dann vielleicht die Sophienkirche. Der Dom gefällt mir nicht so. Der ist zwar groß, aber er sieht eigentlich gar nicht wie eine Kirche aus. Ich finde ihn eigentlich auch ziemlich überladen und kitschig …
Ich finde ihn gut, Papa.
Da siehst du mal, wie unterschiedlich man das mit der Schönheit sehen kann. Weißt du, woran das liegt?
Keine Ahnung.
Schau mal dieser Terrassen-Tisch hier. Was würdest du sagen, wie der aussieht?
Weiß. Und so rundeckig. Also eckig mit abgerundeten Ecken.
Gut. Und woher weißt du das, Oskar?
Weil man es sehen kann.
Genau. Und meinst du, andere sehen das genauso wie du?
Ja.
Und wenn ich jetzt frage: Ist der Tisch schön? Findest du das auch?
Ja.
Und müssen die anderen ihn auch schön finden?
Nein, Papa.
Warum nicht?
Weil jeder einen unterschiedlichen Geschmack hat.
Ja, das stimmt, Oskar. Meinst du, dass du, wenn du groß bist, den Tisch immer noch schön findest?
(Denkt nach) Das weiß ich nicht …
Was meinst du, ist der Unterschied, ob ich sage: Der Tisch ist rundeckig. Oder wenn ich sage: Der Tisch ist schön?
Der Tisch ist halt rundeckig. Und schön kann man ihn finden oder nicht.
Das ist etwas sehr Richtiges. Dass der Tisch weiß ist, ist eine Eigenschaft des Tisches. Aber dass der Tisch schön ist, das ist eine Vorstellung in unserem Kopf. Ich glaube, damit haben wir etwas Wichtiges gelernt: Schönheit ist keine Eigenschaft von Dingen, Menschen oder Landschaften. Schönheit ist etwas, das wir in den Dingen und Personen sehen. Deshalb kann man Schönheit auch nicht messen. Natürlich gibt es Menschen, die von vielen anderen Menschen schön gefunden werden. Es gibt Models oder Schauspieler, die viele andere schön finden. Aber zu anderen Zeiten fand man ganz andere Menschen schön. Mal war es chic, etwas molliger zu sein. Und dann wieder war es viel schöner, dünn oder sogar sehr dünn zu sein. Unsere Vorstellungen, was wir schön finden, ändern sich eben. Und das, was wir mit zehn Jahren schön finden, müssen wir nicht mit vierzig noch schön
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