Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?
sich also zusammen und sucht nach Regeln, die einem in aller Unsicherheit weiterhelfen können.
Doch wie könnten diese Regeln aussehen? Was darf man tun und was nicht? Das ist gar nicht so einfach, denn durch den Gedächtnisverlust weiß niemand, wer er im wirklichen Leben ist. Und keiner kann voraussagen, was für ihn das Beste ist. Keiner will dabei ein Risiko eingehen. Denn man kann ja nicht einschätzen, ob man einem Risiko gewachsen ist oder nicht. Und so listet die Gruppe alle Vorschläge auf, die gemacht werden, um alle wichtigen Grundgüter zu verteilen. Für welche Regeln würdest du dich einsetzen? Was wäre dir am wichtigsten und was am zweitwichtigsten? Und was wäre das Drittwichtigste für dich?
Nun, Oskar, was meinst du? Welche Regel, wie ihr miteinander umgehen sollt, wäre für dich die wichtigste?
Man darf keinen anderen töten, Papa.
Klingt überzeugend. Und die nächstwichtige Regel?
Man darf den anderen nichts wegnehmen. Also vor allem kein Essen wegnehmen.
Klingt auch gut. Und Regel Nummer drei?
(Oskar überlegt lange) Jetzt wird es schwierig. Welche nehme ich …?
Ich überlege mal mit. Die Insel gehört ja noch keinem. Ihr müsst sie erst einmal in Besitz nehmen.
Da darf dann keiner sein wie ein Tyrann und sagen: » Mir gehört jetzt diese Insel.« Es darf nicht einer der Chef sein.
In Ordnung. Jetzt stellen wir uns mal vor, ihr habt angefangen, die Insel in Besitz zu nehmen. Keiner von euch ist der Chef. Jeder kriegt ein ungefähr gleich großes Stück Land. Der eine züchtet darauf Ziegen, ein anderer baut Kartoffeln an, der Nächste versucht es mit Getreide und so weiter. Wäre das gerecht?
Ja, Papa.
Aber jetzt passiert Folgendes: Das mit dem Züchten von Ziegen klappt ganz hervorragend. Sie vermehren sich schnell. Und der Ziegenzüchter produziert ganz viel Milch und Käse. Der mit den Kartoffeln dagegen hat überhaupt kein Glück. Die Kartoffeln wachsen nicht richtig. Und dann zerstört ein Sturm die ganze Kartoffel-Plantage. Da geht der Ziegenzüchter zu dem Kartoffelbauern und sagt: » Pass auf, ich kann dir helfen. Wenn du mir dein Land gibst, dann darfst du auf meine Ziegen aufpassen. Und zum Lohn gebe ich dir etwas von meiner Milch und meinem Käse ab. Und da alle Kartoffelbauern das gleiche Problem mit ihrer Ernte haben, macht er dieses Angebot an alle. Die Kartoffelbauern willigen ein. Und nach ziemlich kurzer Zeit gehört dem Ziegenzüchter die halbe Insel. Ist das gerecht?
Nein, Papa. Das ist ungerecht. Weil der ja dann ganz viel mehr hat.
Soll man denn dem Ziegenzüchter verbieten, den anderen das Land abzutauschen, Oskar?
Die anderen können es doch auch mit Ziegen versuchen. Und der Kartoffelmann kann es doch noch mal mit seinen Kartoffeln probieren. Und wenn er nicht das ganze Land abgibt, sondern nur das halbe, damit er auch noch Land hat, auf dem er weiterprobieren kann?
Soll jeder nur das behalten, was so groß ist wie das Land der anderen? Oder darf er, wenn er mehr Erfolg auf seinem Stück Land hat, auch mehr besitzen?
Der Ziegenmann darf nicht der Boss sein.
Darf er denn durch Tausch noch mehr Land dazubekommen? Das heißt: Ich will wissen, ob es gerechter ist, wenn jeder gleich viel hat? Oder gerechter, wenn der, der erfolgreicher ist, mehr bekommt?
Es ist gerechter, Papa, wenn jeder gleich viel kriegt. Und jeder muss genug zu essen haben.
Ja, aber der Ziegenmann sagt ja nur: » Gib mir dein Land!«, damit der andere, der Kartoffelbauer, nicht verhungert. Das ist doch nur gerecht, oder?
Er könnte ihm ja auch ein paar Ziegen schenken.
Könnte er, ja. Aber wenn er es nicht tut, sondern stattdessen diesen Tausch anbietet? Land gegen Essen?
Es darf schon einer mehr Land haben. Aber nur so viel mehr, dass die anderen nicht verhungern.
Das heißt also: Man darf schon ein größeres Gebiet haben als die anderen. Aber nur, wenn die anderen auch einen Vorteil davon haben und auf ihre Kosten kommen?
Ja, es darf keine Erpressung geben!
Ich glaube, damit haben wir ziemlich gute Regeln gefunden. Es sind übrigens sehr ähnliche Regeln, wie die, die der berühmte amerikanische Philosoph John Rawls einmal aufgestellt hat. Wenn man gerechte Regeln haben möchte, meinte Rawls, dann muss man sich nämlich immer in die Position der Schwächsten hineinversetzen. Denn genau das garantiert wahrscheinlich die größte Fairness. Die Regeln bei Rawls heißen:
1 . Alle haben die gleichen Rechte. Und alle dürfen sich so frei entfalten, dass sie nicht die Freiheit der anderen
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