Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
Lamento über das irdische Jammertal habe sich eingeschlichen; schon Paulus zeige Neigung zur Intoleranz, wollte er doch einen Sünder dem Satan übergeben; außerdem habe er gegen die Ehe gesprochen und zur Abwertung der Frau beigetragen. Er, Herbert Braun, verstehe sich nur insofern als Christ, als er für sich aus der Traditionsmasse herausnehme, was ihm einleuchte. Er übernehme natürlich nicht das vor-moderne ‹Weltbild› der Bibel, noch weniger die verhängnisvolle Neigung, sich selbst gegenüber der himmlischen Welt als Niete zu sehen. Das vollständige, das unbeschnittene Christentum sah Herbert Braun als ein Unglück für die Menschheit an. Er beklagte dessen Dogmatismus.
Ich fragte: «Ja, warum brauchen Sie dann noch Jesus?» Die Antwort lautete etwa: «Er ist mir vertraut. Er zeigt mir, wie ich leben soll. Er leitet mich an zur Selbsterforschung, ohne mich zu demütigen. Er gestattet mir Selbsterkenntnis, mit der ich ‹getrost› weiterleben kann.»
Er sagte dies in einem so warmen Ton, mit großem Ernst und innerer Heiterkeit, daß ich Sympathie für ihn empfand und nur schonend formulierte, was ich doch dachte: Dafür brauche ich diesen Jesus nicht. Herbert Braun sagte einmal, fast zitiere ich ihn, glaube ich, wörtlich: Jesus gebe ihm, daß er «getrost leben und für andere Menschen offen» sein könne. Ich ging von ihm weg mit großem Respekt vor seiner Person und seiner Gelehrsamkeit, bedrückt, wie leer, wie ergebnislos diese Forschung sei. Die mit prächtigen Prädikaten prangende Theologie war ihm abhanden gekommen. Das war nicht seine Schuld. Das konnte ich ihm nicht verübeln. Aber zur Beschwichtigung meiner begründeten Selbstzweifel brauchte ich keine Theologie. Es war das letzte Mal, daß ich einen Theologen um Rat in Glaubenssachen fragte. Ich war endgültig ‹entmythologisiert›.
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Erster Teil
Kapitel I
Der historische Einschnitt
1. Geschichtliche Umbrüche
Seit Napoleon leben wir hier in Europa nicht mehr in konfessionell geschlossenen Gebieten. Wir haben keinen Landesherrn mehr, dessen Religion die der Untertanen bestimmt. Jedes Kind, das an Christus glaubt, weiß, daß es Andersgläubige und Ungläubige gibt. Wer glaubt oder nicht glaubt, weiß, daß er Alternativen hat. Das gibt allen Glaubensartikeln eine realiter veränderte Bedeutung.
Die Entwicklung der letzten 300 Jahre hat tief eingeschnitten ins Fleisch des Christentums. Sie veränderte seine soziale, politische und intellektuelle Substanz. Auch wo Glaubensformeln und Institutionsnamen geblieben sind, hat sich fast alles verändert. Viel mußte seit dem 18. Jahrhundert passieren, bis die christliche Vorstellung von Erlösung nicht nur unplausibel, sondern als eines guten Gottes unwürdig erschien: Wie konnte der Ungehorsam des ersten Menschen Gott so sehr beleidigen, daß allein das blutige Opfer seines geliebten Sohnes ihn mit der Menschheit versöhnte?
«Welt ging verloren,
Christ ward geboren.
Freue dich, freue dich, o Christenheit!»
Ging dem Gott, der sie erschaffen hatte und gut fand, die Welt verloren? Und wer war der erste Mensch? Bis ins 18. Jahrhundert hinein nahm man an, Gott habe die Welt im Jahr 4004 vor Christus erschaffen. Bei diesem Zeitabstand konnte man es sich noch eben vorstellen, Adam habe als einzelner Rechtsvertreter der Menschheit die Gesamtlage der menschlichen Natur durch das Essen der verbotenen Frucht wesentlich verdorben. Die Zahl der unerlöst Verstorbenen war noch nicht unermeßlich groß. Daß Tod und Krankheit erst durch Adams Sünde in die Welt gekommen seien, galt allerdings, wie der Bischof Julian von Eclanum erklärte, schon im 5. Jahrhundert als Unsinn für jeden Denkenden mit minimalen biologischen Interessen. Nur sahen die führenden Kleriker vom 6. bis zum 13. Jahrhundert keinen Grund, über die moralisierende und theologisierende Symbolik der Tierwelt hinauszudenken. Wozu sollten sie über das Niveau der Tierkenntnis von Jägern, Reitern und Bauern hinausgehen? Das wurde anders, als im 13. Jahrhundert Albert der Große die Tierkunde des Aristoteles dem Westen erschloß. Seit Giordano Bruno und Galilei trennten Naturwissenschaftler Lebensraum und Weltraum, Lebenszeit und Weltzeit. Raum und Zeit wuchsen ins Unendliche. Die neuen ungeheuren Dimensionen revolutionierten allmählich auch die alltägliche Erfahrung und deren herkömmliche Zurechtlegungen. Bereits das Zeitalter der geographischen Entdeckungen hatte die Verengung des Begriffs der Welt auf das
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