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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchester
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ausweiten. Damals war es für Leute wie mich – Leute, die ihren Lebensunterhalt mit Schreiben verdienen – sehr schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, eine Hypothek aufzunehmen, weil man eben nicht die dazu erforderlichen Gehaltsabrechnungen und den notwendigen beruflichen Werdegang vorweisen konnte. 11
    All diese Regeln sind schon seit Langem aus dem britischen Immobilienmarkt verschwunden. Einer der Banker, die sozusagenals Leichenfledderer der Northern Rock Bank tätig waren, erzählte mir, die meisten ihrer gewährten Kredite seien durchaus solide gewesen. »Aber ein oder zwei Geschäftsbücher waren geplatzt, und am schlimmsten war das Konto mit den 120-Prozent-Hypotheken.« Ich fragte ihn, warum wohl irgendjemand den Wunsch haben sollte, einen Kredit über 120 Prozent des Kaufwerts aufzunehmen, und er zuckte nur mit den Schultern. Diese Art von Hypothek ist nur dann sinnvoll, wenn man absolut sicher ist, dass der Wert der Immobilie, die man kaufen möchte, enorm steigen wird. Und darüber kann man sich niemals und aus keinem vernünftigen Grund sicher sein. Wir haben hier in Großbritannien absolut verrückte, mit unglaublichen Finanzhebeln ausgestattete Hypotheken, wie es sie nirgendwo sonst in Europa gibt. Dort nimmt man Kredite über wesentlich kürzere Zeitspannen auf, 10 oder höchstens 20 Jahre, im Gegensatz zu den 25 oder 30 Jahren, die in Großbritannien üblich sind. Für die übrigen Europäer ist es auch wesentlich schwieriger, eine Hypothek zu refinanzieren. All diese Gründe führen dazu, dass man auf dem Festland häufiger ein Mietverhältnis eingeht, als sich Eigentum anzuschaffen. Und umgekehrt heißt das, dass wir hier im Vereinigten Königreich viel mehr Kredite aufnehmen, über viel längere Laufzeiten und zu wesentlich höheren Risiken.
    Eine weitere Besonderheit des britischen Hypothekenmarktes erhöht diese Risiken sogar noch zusätzlich: Wir ziehen es vor, unsere Hypotheken mit einem variablen Zinssatz zurückzuzahlen. In den USA ist der prozentuale Anteil von Wohneigentümern ähnlich hoch wie bei uns. Es gibt mehr Hypotheken, mit geringerem Eigenkapitalanteil und längeren Laufzeiten. Aber in den USA haben viel mehr Kredite einen festen Zinssatz. Britische Hausbesitzer sind geradezu allergisch gegen feste Zinssätze; wir ziehen variable Kredite bei Weitem vor. Niemand weiß genau, warum das eigentlich so ist, denn feste Zinsen sind oft sehr sinnvoll und übertragen darüber hinaus auch einen Teil des Risikos auf die Bank. Wenn man einen variablen Zinssatz hat und die Zentralbank die Zinsenerhöht, dann spürt man das sehr schmerzlich im eigenen Geldbeutel, aber wenn man feste Zinsen hat und dasselbe passiert, dann tut das nur der Bank weh. In den USA gibt es zwei Institutionen, die dazu da sind, dem Bankensystem bei Risiken mit festen Zinssätzen auszuhelfen, nämlich Fannie Mae und Freddie Mac; und diese Unternehmen sind genau deshalberhenau de untergegangen, weil sie mit den Kosten dieser Risiken überfordert waren.
    Die Unterschiede bei den Finanzprodukten, die es in den angelsächsischen und den nichtangelsächsischen Ländern zu kaufen gibt, haben ihren Ursprung in der jeweils anderen Einstellung zum Eigentum. Ich habe eine Theorie, warum wir Briten so veranlagt sind: Unsere Sehnsucht nach Eigentum hängt eng damit zusammen, dass sich während der industriellen Revolution in der gesamten Gesellschaft das Gefühl der Entwurzelung ausbreitete. Wenn wir einen Moment lang außer Acht lassen, was wir schon über Immobilien wissen, und uns vorzustellen versuchen, wie die unterschiedlichen Immobilienmärkte in den jeweiligen Ländern aussehen könnten – wenn wir gleichsam kontrafaktisch denken –, dann erschiene es viel logischer, wenn die Verhältnisse genau umgekehrt wären. Länder, die den freien Markt in sehr draufgängerischer Weise interpretieren, die stolz sind auf ihre positive Einstellung zum Wettbewerb und auf ihre Bereitschaft, Risiken einzugehen; Länder, in denen man sich nicht gegenseitig in Watte packt oder vor den Gesetzen des Dschungels beschützt – man würde doch eigentlich erwarten, dass dort die Leute auf dem Immobilienmarkt eher dazu neigen, ihre Wohnungen zu mieten, und dass es ihnen widerstrebt, ihr Geld in einem einzigen illiquiden Vermögenswert zu binden. Und die anderen Länder mit traditionelleren, weniger kapitalistischen Wertesystemen, wo man dem kalten Wind des freien Marktes weniger stark ausgesetzt ist, würden dann entsprechend einen

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