Warum Liebe Weh Tut
viele Werke den sozial destruktiven Charakter des Romans, sein Potential, bei den Lesern und Leserinnen gefährliche sentimentale und gesellschaftliche Erwartungen, kurz, vorgreifende Gefühle auszulösen. In Puschkins Eugen Onegin , bekannt für seine Diskussion des Verhältnisses von Leben und Kunst, verliebt sich Tatjana, ein einfaches Mädchen vom Land, unglücklich in Eugen, einen kultivierten und zügellosen Großstadtbewohner. Der Erzähler, der Eugens Kaltschnäuzigkeit nachahmt, bemerkt ironisch:
Früh mochte sie Romane,
für alles waren sie ihr Ersatz;
sie verliebte sich in das Blendwerk
368 von Richardson und Rousseau.
Ihr Vater war ein herzensguter Mensch,
der im vergangenen Jahrhundert zurückgeblieben war,
doch an Büchern nichts Schlimmes finden konnte; [15]
[…]
der Zeitpunkt war gekommen – sie hatte sich verliebt.
So wird ein in die Erde gefallener Same
vom Frühlingsfeuer zum Leben erweckt.
Längst hatte ihre Phantasie,
sich verzehrend in Sinnlichkeit und Sehnsucht ,
gelechzt nach dieser schicksalhaften Speise,
längst hatte Herzensschmachten
ihr die junge Brust zugeschnürt;
die Seele wartete – auf irgend einen […]. [16]
Zweifellos war Tatjanas Liebe eine vorbereitete Form, die nur darauf wartete, mit einem beliebigen Objekt gefüllt zu werden, als das sich dann der scheinbar romantische Eugen erwies. George Eliot beschreibt Hetty Sorel in ihrem Roman Adam Bede wie folgt: »Hetty hatte noch nie einen Roman gelesen; wie sollte sie da ihren Erwartungen Gestalt verleihen können?« [17] Auf ähnliche Weise macht sich Jane Austen in Kloster Northanger anhand ihrer Figur Catherine Morland, deren verstiegene Vorstellungen sich der Romanlektüre verdanken, über das Genre des Schauerromans lustig. Diese und andere Autorinnen und Autoren beschreiben und ironisieren die Fähigkeit des Romans, durch vorgreifende Vorstellungen Bilder der Liebe zu gestalten, das heißt zu gestalten, wie die Erforschung imaginärer Welten Gefühle hervorruft.
Das Buch, das die zeitgenössischen Sorgen über die Ein 369 bildungskraft und die schwierige Beziehung zwischen Einbildungskraft, Roman, Liebe und gesellschaftlichen Ansprüchen am umfassendsten aufgriff, ist Madame Bovary . Flauberts Roman enthält die kaum überbietbare Beschreibung des Elends eines genuin modernen Bewußtseins, das vollgesogen ist mit imaginären Liebesszenarien, und er untersucht, was passiert, wenn diese imaginären Szenarien auf die Realität treffen. Als Heranwachsende las Emma Bovary heimlich Romane, die ihre Vorstellungen von der Liebe und ihre Träume von Luxus prägten.
Darin [in den Romanen] wimmelte es von Liebschaften, Liebhabern, Liebhaberinnen, von verfolgten Damen, die in einsamen Pavillonen ohnmächtig, und von Postillionen, die an allen Ecken und Enden gemordet wurden, von edlen Rossen, die man Seite für Seite zuschanden ritt, von düsteren Wäldern, Herzenskämpfen, Schwüren, Schluchzen, Tränen und Küssen, von Gondelfahrten im Mondenschein, Nachtigallen in den Büschen, von hohen Herren, die wie Löwen tapfer und sanft wie Bergschafe waren, dabei tugendsam bis ins Wunderbare, immer köstlich gekleidet und ganz unbeschreiblich tränenselig. Ein halbes Jahr lang beschmutzte sich die fünfzehnjährige Emma ihre Finger mit dem Staube dieser alten Scharteken. Dann geriet ihr Walter Scott in die Hände, und nun berauschte sie sich an geschichtlichen Begebenheiten im Banne von Burgzinnen, Rittersälen und Minnesängern. Am liebsten hätte sie in einem alten Herrensitze gelebt, gehüllt in schlanke Gewänder wie jene Edeldamen, die, den Ellenbogen auf den Fensterstein gestützt und das Kinn in der Hand, unter Kleeblattbogen ihre Tage verträumten und in die Fernen der Landschaft hinausschauten, ob nicht ein Rittersmann mit weißer Helmzier dahergestürmt käme auf einem schwarzen Roß. [18]
Flauberts Beschreibung der Einbildungskraft ist höchst modern: Es handelt sich um eine ausgesprochen strukturierte Imagination, eine Form von Tagträumen mit klaren, lebhaften und sich wiederholenden Bildern; sie setzt sich aus klar umrissenen Bildern zusammen und ruft dieselbe dif 370 fuse Sehnsucht hervor, die auch Tatjana, Hetty Sorel und Catherine Morland empfanden. Diese Sehnsucht ist sowohl sprachlich, in Form von narrativen Handlungssequenzen, als auch durch geistige Bilder von Mondschein, idyllischen Landschaften und leidenschaftlichen Umarmungen strukturiert. Was die Liebe zu einem
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