Warum Liebe Weh Tut
erinnert und in Form gebracht. Kahneman u. a. beschreiben den Unterschied zwischen diesen beiden Bewußtseinsformen. [38] So wird beispielsweise Patient A, der einer schmerzhaften, abrupt beendeten Prozedur unterzogen wurde, diese als belastender erinnern als Patient B, dessen schmerzhafte Prozedur länger dauerte, dessen Schmerzbelastung jedoch schrittweise reduziert wurde. [39] Dies deutet darauf hin, daß Menschen, um zu entscheiden, ob eine Erfahrung angenehm ist oder nicht, stärker auf ihre kognitive Struktur achten als auf die Erfahrung an sich. Obwohl die Autoren den Implikationen ihrer Ergebnisse nicht nachgehen, weisen diese doch deutlich darauf hin, wie sich ein Bewußtsein, das Inhalte in bereits bestehende kulturelle und kognitive Formen gliedert, von einem Bewußtsein unterscheidet, das einen formlosen Fluß von Erfahrungen begleitet. Das Vermögen, Erfahrung formal zu gliedern – das heißt, sie in einer Erzählung mit spezifischen Szenenfolgen oder in visuellen Momentaufnahmen anzuordnen –, verleiht dieser Erfahrung eine neue Konsistenz und Bedeutung. Damit wir ein Erlebnis als angenehmer erleben und erinnern, so scheint es also, müssen wir es in eine kulturelle und kognitive Form bringen.
Das Problem der Einbildungskraft ist offensichtlich ähnlicher Natur. Der Unterschied besteht darin, daß die Einbildungskraft Erfahrungen vorausschauend und nicht zurückblickend organisiert. Wo das Gedächtnis manche Aspekte eines Erlebnisses auslöscht und an anderen festhält, so daß wir nur die Elemente erinnern, die »zum Drehbuch passen«, 393 nimmt die Einbildungskraft nur bestimmte Formen und Gestalten der Erfahrung vorweg. Sie bewirkt damit, daß wir andere Aspekte dieser Erfahrung gar nicht bemerken, wenn wir sie tatsächlich machen, oder die Erfahrung als negativ bewerten. Eine Enttäuschung ist somit entweder die Unfähigkeit, die vorweggenommene (ästhetische) Form in der realen Erfahrung wiederzufinden, oder die Schwierigkeit, sie im realen Leben aufrechtzuerhalten. Diese Schwierigkeit hat damit zu tun, ob und wie es gelingt – oder eben nicht gelingt –, die beiden Formen von Bewußtsein miteinander zu verbinden. Dieses Problem hat uns meiner Meinung nach viel über die Natur der Vorstellungskraft und über die Natur der alltäglichen Erfahrung zu sagen, mit der unsere geistigen Vorgriffe zurechtkommen müssen. Zwar hat uns eine lange Tradition gelehrt, der Einbildungskraft zu mißtrauen, und uns zu der unterschwelligen Annahme verleitet, an den Alltag müsse man sich eben anpassen, doch möchte ich dem entgegenhalten, daß wir der Struktur des alltäglichen Lebens genausoviel Aufmerksamkeit widmen müssen, bewirkt sie doch eine große Kluft zwischen diesen beiden Formen von Bewußtsein.
Das Scheitern des Alltags
In der Behauptung, die Medienkultur schüre mit ihren Vorstellungswelten übermäßige Erwartungen, ist die Vorstellungskraft immer schon implizit im Unrecht; die »Realität« hat das letzte Wort und ist die definitive Meßlatte, die an den Gebrauch der Einbildungskraft anzulegen ist. So erhebt etwa die Psychoanalyse das »Realitätsprinzip« zu dem Kodex, dem sich die Psyche letztlich beugen muß. Nur ein Beispiel: »Da sie mit einer ›Überbewertung‹ verbunden ist, geht die romantische Liebe in ihrer Idealisierung mit einem Bruch der Realitätsprüfung einher und ist somit immer un 394 reif und gefährlich.« [40] Diese Bejahung des Realen gegenüber dem Vorgestellten aber fragt nicht nach der Struktur des »Realen«, mit dem die Vorstellungskraft zurechtkommen muß. Eine Enttäuschung gilt stets als Folge »unrealistischer Erwartungen«, doch wird die Struktur des Realen, die diese Erwartungen unrealisierbar macht, nie in Frage gestellt. Ich möchte hingegen gerade die Annahme hinterfragen, daß dem Realen von Haus aus und zwangsläufig die Mittel fehlen, um unsere Vorstellungen zu befriedigen. Oder wenn dem so ist, dann möchte ich wissen, warum.
In einem Buch mit dem Titel Kann denn Liebe ewig sein? argumentiert der Psychoanalytiker Stephen Mitchell, daß die meisten Ehen aus der Erfahrung seiner Praxis heraus in schwierige Fahrwasser geraten, weil ihnen die Leidenschaft ausgeht. [41] Mitchell schreibt dies dem Umstand zu, daß die meisten Menschen versuchen, gleichzeitig ein Sicherheits- und ein Abenteuerbedürfnis zu befriedigen. Die Leidenschaftslosigkeit der Ehe rühre davon her, wie wir unserem Sicherheitsbedürfnis nachkommen. Sicherheit gilt den
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