Warum Liebe Weh Tut
diskutiert wurde. Ein Großteil der Überlegungen zum Paradies galt der Frage, wo es angesiedelt war, wer dort hauste und wie man es finden konnte. Die Vorstellungsbilder, die hierzu aufgerufen wurden, drehten sich um mythische Schauplätze. Jean Delumeau zufolge hielten sich diese Vorstellungen nicht nur bis ins 17. Jahrhundert, sondern erreichten in jener Epoche ihren Höhepunkt. Man träumte vom »goldenen Zeitalter, der Insel der Seligen, vom Jungbrunnen, Schäferidyllen und Schlaraffenländern […]. Und noch nie zuvor hatte man in unserem Abendland den Gärten so viel Platz eingeräumt und solche Gunst gewährt.« [36] Das Paradies wurde somit als geographischer Ort imaginiert, der durch seine Gewässer und seine üppige Vegetation bestimmt war. 390 Im 15. Jahrhundert entwickelte er sich zu einem Schauplatz ewiger Jugend und Liebe, jenseits von Raum und Zeit. Diese imaginäre Konstruktion des Paradieses ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: In ihrem Mittelpunkt stehen keine deutlich abgegrenzten Charaktere und Handlungsfäden, und sie kennt per se keine Enttäuschung. In der mittelalterlichen Vorstellung war das Paradies real, es existierte irgendwo weit vor Europas Küsten und mußte nicht mit der Echtzeit konfrontiert werden – das heißt, es mußte nicht mit der Frage konfrontiert werden, wie der Übergang von einem vorgestellten Inhalt zur Realität zu bewerkstelligen wäre. [37] Als das Paradies irgendwann im Laufe des 16. Jahrhunderts verlorenging – als die Menschen also nicht mehr glaubten, daß es sich an irgendeinem Ort der Welt befand –, wurde es zum Objekt nostalgischer Sehnsucht. Vom Paradies war nun in einem tröstenden Sinne die Rede oder um die Alltagsrealität zu überglänzen. Im 15. und 16. Jahrhundert war es mithin ein nostalgischer Ort, das verlorene Paradies, das sich nicht mehr zurückgewinnen ließ. Doch verband es sich kulturell nicht mit vorgreifenden Gefühlen aus dem realen Leben und auch nicht mit der kulturellen Problematik der Enttäuschung. Erst als der Gebrauch der Einbildungskraft durch Romane angeregt wurde, entwickelte sich diese zu einer Quelle der Enttäuschung. Genauer gesagt: Als die Einbildungskraft realistischer, das heißt auf reale, alltägliche Dinge ausgerichtet wurde, und als sie demokratisch, das heißt auf Gegenstände und Erfahrungen ausgerichtet wurde, die im Prinzip jedermann zugänglich waren, bekam sie es mit dem Problem zu tun, zwischen eingebildeten Erwartungen und den Einschränkungen des täglichen Lebens hindurch lavieren zu müssen. Die Enttäuschung entwickelte sich genau in dem Moment zu einem Begleitumstand der Liebeserfahrung, als in der Liebe immer 391 stärker von der Vorstellungskraft Gebrauch gemacht wurde und deren Beziehung zum alltäglichen Leben an Bedeutung gewann.
Um das Wesen der Enttäuschung zu verstehen, möchte ich zunächst zwischen einer Enttäuschung als einmaligem Ereignis – etwa, wenn wir einen Menschen kennenlernen, der unsere Erwartungen nicht erfüllt – und der Enttäuschung als verschwommenem Gefühl, das sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, unterscheiden. Im ersten Fall ist die Enttäuschung klar und deutlich, wie es im Fall einer ersten Begegnung der Fall sein kann und im Zusammenhang mit der zunehmenden Nutzung von Internet-Kontaktbörsen auch immer häufiger der Fall ist. Im zweiten Fall baut sich die Enttäuschung durch die gesammelten Erfahrungen des alltäglichen Lebens auf. Diese beiden Formen von Enttäuschung unterscheiden sich, weil sich ihre kognitiven Stile unterscheiden. Im ersten Fall haben wir es zumeist mit einem klaren geistigen Bild zu tun, das man sich von einer Person gemacht hat, bevor man ihr zum ersten Mal begegnet; im zweiten Fall verdankt sich die Enttäuschung einem stillschweigenden Vergleich des eigenen täglichen Lebens mit dem Kern der allgemeinen und verschwommenen narrativen Erwartungen, wie dieses Leben sein sollte.
Das enttäuschende Leben
Welche Faktoren tragen dazu bei, ein Gefühl der Enttäuschung als prägender Erfahrung auszulösen, die sich im und durch den Alltag aufstaut? Wir können zunächst, um den soeben skizzierten Unterschied zwischen zwei Formen von Enttäuschung noch einmal anders zu formulieren, eine Unterscheidung heranziehen, die Daniel Kahneman und seine Kollegen zwischen zwei Formen von Bewußtsein treffen: 392 In der einen Bewußtseinsform wird das Leben als endloser Strom von Augenblicken erlebt; in der anderen werden Erlebnisse
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