Warum Liebe Weh Tut
meisten als unvereinbar mit Leidenschaft oder als der Anfang von ihrem Ende. Dem möchte ich entgegenhalten, daß diese Suche nach »Sicherheit« und/oder »Abenteuer« keine unveränderliche Dimension der Psyche ist beziehungsweise, wenn das doch der Fall sein sollte, Sicherheit und Abenteuer in verschiedenen kulturellen Strukturen unterschiedliche Formen annehmen. Sie sind auch Folgen der sozialen Organisation der Psyche. Die Dimension der Sicherheit leitet sich von der Fähigkeit her, die eigene Umgebung zu kontrollieren und vorauszuberechnen, die Dimension des Abenteuers hingegen von dem Gefühl, entwe 395 der in seiner sozialen Identität oder in seinem Wissen, wie man Dinge macht, herausgefordert zu sein. Was Mitchell Sicherheit nennt, ist eine Folge der tiefgreifenden Rationalisierung des täglichen und häuslichen Lebens, der Routinisierung von Aufgaben und Dienstleistungen, die einem helfen, den häuslichen Betrieb tagein, tagaus aufrechtzuerhalten. Die Rationalisierung des Haushalts äußert sich in einer Zeitdisziplin, die darin besteht, daß wir zu einer bestimmten Zeit aufwachen, zu einer bestimmten Zeit nach Hause kommen, die Kinder zu ihren regelmäßigen Aktivitäten bringen, zu bestimmten Zeiten essen, bestimmte Nachrichtensendungen oder Fernsehserien verfolgen, an einem bestimmten Tag Lebensmittel kaufen, gesellschaftliche Aktivitäten planen und festgelegte Mußestunden haben und so weiter. Die Rationalisierung des Raums wiederum äußert sich darin, daß die Supermärkte und Einkaufszentren, in denen wir unsere Besorgungen machen, hochkontrollierte Umgebungen sind; daß in den Wohnungen, in denen wir leben, der Raum homogen geplant, rational aufgeteilt und nach funktionalen Kriterien der Objektnutzung angeordnet ist; daß die Gegenden, in denen wir leben, überwacht und frei von jedem möglichen Quell von Chaos sind. Das moderne häusliche Leben ist hochgradig vorhersehbar, und seine Vorhersehbarkeit wird durch ein ganzes Spektrum von Institutionen sichergestellt, die das tägliche Leben organisieren: die Hauslieferung (von Essen, Zeitungen, bestellten Waren), das Fernsehen mit seinen regelmäßigen Programmen, zumeist im voraus geplante Geselligkeiten sowie standardisierte Frei- und Urlaubszeiten. Was Mitchell als Sicherheit bezeichnet, ist somit in Wirklichkeit eine rationalisierte Weise, den Alltag einzurichten – »Sicherheit« wird, mit anderen Worten, sowohl psychisch als auch soziologisch als Nebenprodukt der Rationalisierung des Alltags erlangt.
Diese Rationalisierung des täglichen Lebens führt oft zu 396 Enttäuschung, weil sie fortwährend und unaufhörlich mit jenen weitverbreiteten, ganz anderen Modellen und Idealen emotionaler Aufregung und Expressivität verglichen wird – ein Vergleich, der einen dazu bringt, sich und sein Leben negativ zu beurteilen. Tatsächlich zeigen Forschungen, daß man seine rationalisierte Alltagserfahrung unter dem Einfluß von Medienbildern eher negativ bewertet. Der Mechanismus, der dies bewirkt, ist komplex. Untersuchungen zum Einfluß von Medienbildern auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers deuten darauf hin, daß Bilder perfekter Körper deshalb negative Auswirkungen auf die Selbstachtung und das Selbstverständnis haben, weil die Betrachtung dieser perfekten Körper suggeriert, daß andere sie leichter bekommen können (Konkurrenzaspekt) und daß ihnen dies wichtig ist (Aspekt der normativen Legitimität). Medienbilder werden somit durch unsere stillschweigenden Annahmen darüber, was sie über die Erwartungen, die andere an uns haben, und über die Erfolge, die andere im Vergleich zu uns haben, aussagen, zu einer Quelle von Wünschen. Weitverbreitete Bilder der Liebe können zu dem Gedanken verleiten, daß anderen eine Liebe geglückt ist, die uns versagt blieb, und daß eine geglückte Liebe für ein erfolgreiches Leben normativ von Bedeutung ist. Die so ausgelöste Unzufriedenheit kann eine chronische Enttäuschung nähren. Somit führt die Rationalisierung des täglichen Lebens zu einer Langeweile, die wir permanent stillschweigend mit den Modellen emotionaler Erregung, Intensität und Fülle vergleichen, wie sie uns die Medien vor Augen führen.
Irritationen
Neben Sicherheit und Rationalisierung bringt ein gemeinsamer Alltag auch Irritationen mit sich. In seinem Buch Was sich liebt, das nervt sich hat der französische Sozio 397 loge Jean-Claude Kaufmann die kleinen Ärgernisse untersucht, die Paare im Alltag erleben. [42] Er
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