Warum macht Sex Spaß?
anders vorgekaute Nahrung angewiesen. Aber dieser alte Mensch ist die »Bibliothek« des Stammes. Da es in seiner Kultur traditionsgemäß noch nie schriftliche Zeugnisse gab, weiß der alte Mensch über die heimische Umgebung viel mehr als jeder andere und ist die einzige zuverlässige Informationsquelle, wenn es um Ereignisse geht, die sich vor langer Zeit zugetragen haben. So erfahre ich auch den Namen des seltenen Vogels und erhalte eine Beschreibung von ihm.
Die gesammelte Erfahrung des alten Menschen ist für das Überleben des gesamten Stammes von großer Bedeutung. Im Jahr 1976 reiste ich zum Beispiel auf die Salomoneninsel Rennell Island im Taifungürtel des Südwestpazifiks. Als ich fragte, welche Samen und Früchte die Vögel fressen, nannten meine einheimischen Informanten Dutzende von Pflanzennamen in der Rennell-Sprache; für jede dieser Arten führten sie alle Vogel- und Fledermausarten an, die sich davon ernähren, und machten auch Angaben darüber, ob die Frucht für Menschen eßbar sei. Die Eßbarkeit wurde dabei in drei Kategorien unterteilt: Früchte, die der Mensch unter keinen Umständen ißt; Früchte, die der Mensch regelmäßig ißt; und Früchte, die der Mensch nur bei Hungersnot ißt, zum Beispiel – und hier hörte ich einen Rennell-Begriff, der mir bis dahin nicht geläufig war – nach dem hungi kengi. Dieser Begriff entpuppte sich als Bezeichnung für den schlimmsten Wirbelsturm, der seit Menschengedenken über die Insel gefegt war – offenbar um 1910, wie man den Hinweisen auf bekannte Vorgänge in der europäischen Kolonialverwaltung entnehmen konnte. Der hungi kengi zerstörte den größten Teil des Waldes auf der Insel, verwüstete Gärten und trieb die Menschen an den Rand des Hungertodes. Die Inselbewohner überlebten nur, weil sie Früchte aßen, die Menschen normalerweise nicht verzehrten; das erforderte aber ein genaues Wissen darüber, welche Pflanzen giftig waren und bei welchen man das Gift unter Umständen durch geeignete Zubereitung unschädlich machen konnte. Als ich nun meinen einheimischen Informanten – sie waren im mittleren Alter – mit Fragen nach der Eßbarkeit der Früchte zusetzte, brachten sie mich in eine Hütte. Als meine Augen sich an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, sah ich ganz in der Ecke die unvermeidliche, hinfällige alte Frau, die ohne Hilfe nicht mehr gehen konnte. Sie war die letzte lebende Person, die noch selbst nach dem hungi kengi Erfahrungen mit den ungefährlichen, nahrhaften Pflanzen gemacht hatte, bevor in den Gärten wieder etwas wuchs. Die Frau erklärte mir, sie sei zur Zeit des hungi kengi ein Kind im noch nicht ganz heiratsfähigen Alter gewesen. Da meine Reise nach Rennell Island 1976 stattfand und da der Wirbelsturm Sechsundsechzig Jahre zuvor, also um 1910 stattgefunden hatte, war die Frau vermutlich Anfang Achtzig. Nach dem Taifun von 1910 hatte sie nur deshalb überlebt, weil sie sich auf die Kenntnisse der betagten Überlebenden des letzten Sturms vor dem hungi kengi stützen konnte. Heute wären die Menschen bei einem weiteren Taifun auf ihre Kenntnisse angewiesen, die zum Glück sehr detailliert waren.
Solche Geschichten ließen sich endlos fortsetzen. Traditionelle Kulturen sind häufig kleineren Gefahren ausgesetzt, die einzelne Menschen bedrohen, und in seltenen Fällen gefährdet eine Naturkatastrophe oder eine Stammesfehde auch das Leben aller ihrer Mitglieder. Aber in einer kleinen traditionellen Kultur ist praktisch jeder mit jedem verwandt. Deshalb sind alte Menschen dort nicht nur für das Überleben ihrer eigenen Kinder und Enkelkinder unentbehrlich, sondern auch für die vielen hundert Menschen, die einen Teil ihrer Gene tragen.
Jede Gesellschaft, in der einige Menschen so alt sind, daß sie sich an das letzte Ereignis nach Art des hungi kengi erinnern können, hat eine bessere Überlebenschance als eine ohne diese Alten. Die alten Männer waren nicht den Gefahren der Entbindung und der Erschöpfung durch Stillen und Kinderpflege ausgesetzt, und deshalb entwickelten sich bei ihnen nicht die schützenden Wechseljahre. Aber alte Frauen, die nicht unfruchtbar wurden, verschwanden auf längere Sicht aus dem menschlichen Genrepertoire, weil sie weiterhin durch Geburten und Kinderpflege gefährdet waren. In Krisenzeiten wie beim hungi kengi hatte der Tod einer solchen alten Frau auch zur Folge, daß die Gene aller ihrer überlebenden Nachkommen aus dem Repertoire verschwanden – ein gewaltiger
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