Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
an.
Er wird immer unsicherer. Er betont: »Ich wollte nicht, dass sie stirbt.« Er wiederholt: »Ich habe sie ja nicht bewusst umgebracht.«
»Wo hast du die Handschellen herbekommen?« Aus dem Nachbarkeller habe er sie vier Tage zuvor geklaut, in einer Tüte im Kellerabteil aufbewahrt. »Aber ich habe sie nur zufällig dabehalten«, sagt er. Und dass er keinen Schlüssel hatte, um die umgelegten Handschellen wieder zu öffnen? »Daran habe ich in dem Moment gar nicht gedacht«, sagt er.
Der Täter ist überführt, daran besteht kein Zweifel. Es ist klar, dass er bereits aufgrund seiner jetzigen Aussagen verurteilt werden wird. Aber vor Gericht wird es auch darum gehen, die Schwere seiner Schuld zu bemessen. Warum tötete dieser Junge das Mädchen? War es wirklich nicht beabsichtigt? Hat er einen Totschlag begangen? Oder war es Mord? Nicht jeder, der einen Menschen vorsätzlich umbringt, wird wegen Mordes verurteilt und bekommt eine lebenslängliche Freiheitsstrafe. Dafür muss bewiesen sein, dass er, wie es im Strafgesetzbuch heißt, »aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken« gehandelt hat.
Wir müssen darum also herausfinden, ob Nils das Mädchen womöglich aus Freude am Töten umgebracht hat, ob es ihn sexuell erregt hat. Oder ob es sterben musste, weil sie ihn sonst verraten hätte. Der 18-Jährige im Vernehmungszimmer stellt ihren Tod bisher als Missgeschick dar.
Ein Missgeschick?
Auch meine Kolleginnen und ich nähern uns nun dem Punkt, an dem das Opfer gestorben ist. Die Blätter, die wir auf unseren Tischen ausbreiten, werden mehr, unsere Skizzen am Flipchart detaillierter. Das Opfer liegt im Keller, Handschellen sind angelegt, es wurde geknebelt und missbraucht. Und nun? Der Täter wird es wieder anziehen, es mit einem Strick oder einem Kabel erdrosseln, es auf diese außergewöhnliche Art fesseln, ihm den Nylonsack vor den Mund binden, es in den Karton packen und später in die Abstellkammer bringen. Der Täter wird irgendwann während dieser Zeit ejakulieren, denn die Obduktionsergebnisse deuten darauf hin, dass er während des Missbrauchs noch zum Erguss gekommen ist. Dem Opfer wird Blut aus dem Mund laufen. Der Täter wird das Blut aufwischen und die Tücher im Karton entsorgen. Er wird die Spuren seines Spermas aufwischen und die Tücher ins Gebüsch werfen. Doch was passiert in welcher Reihenfolge?
Die beiden Kommissare müssen nun die sexuellen Details abfragen. Er habe sich selbst befriedigt, das hatte Nils zuvor schon zugegeben. Wann? »Als sie da lag. Aber ich hab sie dabei nicht angeschaut.« – »War sie gefesselt?« – »Ja, die Handschellen waren dran.« Er habe es getan, bevor er ihr das Kabel umband. »Ich habe mir aber keinen runtergeholt, weil sie da jetzt so lag, nicht dass die Richter das nachher glauben.« Wieder werde ich »rote Flagge« daneben schreiben, mit zwei Ausrufezeichen.
Nach der Fesselung mit dem Kabel habe er den Keller kurz verlassen und bei seiner Rückkehr festgestellt, dass Denise tot war. Ob er etwas verdecken wollte? Nein. Und das Rad, das er im Gebüsch versteckte? »Keine Ahnung, warum ich das weggebracht habe.« Und warum hat er sie überhaupt auf diese Art gefesselt, warum über den Rücken, so dass Zug auf den Hals kam und die Gefahr bestand, dass sie erstickt? »Ich war hektisch.«
Dann habe er den Karton hochgetragen. »Ich wollte in ihrer Nähe sein, weil es mir so leidtat.« Er beginnt nun zum ersten Mal zu weinen. »Ich wollte das ungeschehen machen«, sagt er. Und dann folgt ein Satz, den ich mir später im Protokoll dick unterstreichen werde: »Ich wollte sie in meiner Nähe haben – aber nicht, weil ich ihr was antun wollte.« Spricht er auf seine bewährte Art diesmal das Motiv seiner Tat aus, um es vorab zu leugnen?
Die erste Vernehmung endet. Nils wird in seine Zelle geführt.
Im Ordner vor mir findet sich keine Antwort darauf, wo und zu welchem Zeitpunkt der Täter sich selbst befriedigt hat. Ob das Opfer lebte, tot war, schon um Hals und Beine gefesselt war? Wir können es nicht sagen. Doch mittlerweile haben wir uns intensiver mit dieser Art der Fesselung beschäftigt. Ich habe eine solche Variante in all meinen Berufsjahren noch nie gesehen. Wählte der Täter sie nur aus praktischen Gründen? Um das Opfer besser in den Karton packen zu können?
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