Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
Wohl kaum, den Körper nach vorne zusammenzurollen, wäre einfacher gewesen. Hat ihn das bizarre, ja entwürdigende Bild, das ein derart gefesselter Mensch abgibt, erregt? Vielleicht. Eine mögliche Antwort liefert uns die Internetrecherche: Der Täter improvisierte gar nicht. Er hatte ein Vorbild. Diese Form der Fesselung ist als »Chinesische Schaukel« bekannt. Es ist eine asiatische Foltermethode. Haben wir es mit einem Sadisten zu tun?
Die Art der Fesselung hätte jedenfalls auch zum Tod des Opfers führen können. Niemand könnte dem Täter widerlegen, dass es unbeabsichtigt passiert ist. Aber im Obduktionsbericht findet sich ein Befund, der dagegen spricht: die Würgemale. Das Kabel für die »Chinesische Schaukel« war einmal um den Hals geschlungen und im Nacken verknotet. Doch der Gerichtsmediziner hat Spuren einer zweiten Strangulation gefunden. Dafür war das Kabel oder Seil zweimal um den Hals geschlungen und an dessen Vorderseite zugezogen. Schon diese Schlinge war tödlich. Das lässt nur einen Schluss zu: Der Täter hat sein Opfer vor der Fesselung umgebracht. Es wieder angezogen. Erst danach hat er es auf diese sadistisch anmutende Art gefesselt.
So muss es gewesen sein. Die Tatrekonstruktion ist bald abgeschlossen. Das Opfer ist nun tot. Es verliert aufgrund seiner inneren Verletzungen Blut, das der Täter mit einem Küchentuch von der Rolle vom Boden aufwischt. Wahrscheinlich bindet er ihm darum auch den Nylonsack vors Gesicht, damit das Blut nicht aus dem Karton sickert, in den er es nun packt. Irgendwann in der Zwischenzeit versteckt er das Fahrrad. Und bringt später den Karton, den er mit Klebeband verschlossen hat, in die Abstellkammer der Familie Wagner.
Ich muss wieder an die Mutter denken. »War es Nils?« Ich denke auch daran, dass bei der Befragung am Abend niemand Verdacht schöpfte, als alle das Kind noch suchten und Nils seine verdächtigen Lügengeschichten erzählte. Dass ein Teenager ein Mädchen umbringt? Für viele ist das schwer zu glauben. Und es scheint noch schwerer zu sein, wenn man genauer weiß, was vorgefallen ist.
Nils wird noch am gleichen Tag zu einer zweiten Vernehmung geholt. Er lügt weiter, nähert sich der Wahrheit nur, wenn er muss. Und immer, wenn er glaubt, enttarnt zu werden, behauptet er das Gegenteil von dem, was ihn noch mehr belasten könnte. Manchmal verspricht er sich jetzt auch. Warum er den Nylonsack umgebunden habe? »Ich wollte, dass sie nie wieder schreien kann. Ich meine damit also, dass sie nicht schreit. Ich meine damit, dass ich sie nicht umbringen wollte.« Er habe erst später gemerkt, dass er sie umgebracht hat. Er habe »ehrlich erst mal nichts vorgehabt«, als er sie in den Keller lockte. Er bleibt dabei, dass Denise ihm erotische Avancen gemacht habe. Behauptet, dass er nach der Tat in seinem Zimmer onaniert habe, obwohl er vorher gesagt hat, es sei im Keller neben der Toten geschehen. Wenn er tatsächlich erst in seinem Zimmer onaniert hätte, warum hätte er dann das Papier vor dem Haus entsorgen sollen, statt es einfach in der Toilette hinunterzuspülen? Nach der Sichtung seiner widersprüchlichen Ausführungen haben wir als Ergebnis vier verschiedene Versionen der Tat, die sogar noch diverse Untervarianten haben.
Aber wir Fallanalytikerinnen sind nun nahe an der Wahrheit.
Wir können den nächsten Schritt machen. Dafür gehen wir die Aussageprotokolle durch, die Widersprüche, aber auch die Signale, die roten Flaggen. Wir verbinden seine Aussagen mit den Ergebnissen unserer Analyse.
Nils hat das Mädchen in den Keller gelockt. Es ist ihm wahrscheinlich freiwillig gefolgt. Er ist vorbereitet. Er sorgt dafür, dass er genügend Zeit hat, indem er den Lichtschalter mit der Schraube fixiert, damit es nicht dunkel wird. Er hat ein Halstuch zum Knebeln mitgebracht, ein Kabel für eine Fesselung im Keller liegt bereit. Für eine Fesselung, mit der er sich wahrscheinlich zuvor intensiv befasst hat. Er hat auch Handschellen im Keller deponiert und dürfte wissen, dass er sie nicht mehr öffnen wird, wenn sie einmal umgelegt sind. Er legt sie dem Kind ohne dessen Widerstand an, womöglich indem er sagt, es sei ein Spiel. Dann zieht er es aus und missbraucht es. Er knebelt es entweder zuvor oder als es zu schreien beginnt. Dann stranguliert er es mit dem bereitliegenden Kabel. Schließlich fesselt er das tote Mädchen nach dem Vorbild der »Chinesischen Schaukel«. Er verlässt das Kellerabteil, geht kurz in die Wohnung hoch und verlässt
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