Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
sie bald wieder. Es ist der Moment, in dem er seiner Mutter sagt, dass er schnell die Bohrmaschine holen will. Wahrscheinlich hat er in Wahrheit die Papierrolle aus der Küche geholt. Mit dem Papier wischt er nun das Blut auf. Vermutlich befriedigt er sich selbst angesichts des gefesselten Opfers und reinigt sich mit dem Küchenpapier. Er verlässt den Keller, um das Fahrrad zu verstecken, und entsorgt die Tücher. Er kehrt zurück, bindet den Sack vor das Gesicht des Mädchens und packt es in den Karton. Er beteiligt sich an der Suche und versucht gezielt, diese in die falsche Richtung zu lenken. Er geht nachts noch mal in den Keller und bringt den Karton in die Abstellkammer. Dort wird der Karton entdeckt. Bei der Vernehmung versucht Nils, den Verdacht auf jemand anderen zu lenken und gesteht nur, was er gestehen muss. Angesichts von heiklen Details versucht er vorab eine falsche Fährte zu legen.
So wird es sich aller Wahrscheinlichkeit nach zugetragen haben.
Wir haben im Lauf der Befragungen in seinem Umfeld einiges über die Lebensumstände dieses 18-Jährigen erfahren. Die Eltern trennen sich früh, mal wohnt er bei seinen Großeltern, die streng sind, mal bei der Mutter, die überfordert ist. Zwischendurch haut er von zu Hause ab, lebt in Heimen. Zeitweise ist er auch in einer Wohngruppe untergebracht. Er hat ständig Schwierigkeiten in der Schule, lässt sich früh zu Alkohol und Drogen verführen. Nur knapp schafft er den Hauptschulabschluss und findet keine Lehrstelle. Erst kurz vor der Tat macht er seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem gleichaltrigen Mädchen, das am Vorabend des Mordes mit ihm Schluss macht.
Die Biographie eines Menschen dient nicht als Entschuldigung für seine Tat. Noch weniger kann sie die Mutter eines ermordeten Mädchens trösten oder das Leid mindern, das ein Täter über eine Familie gebracht hat. Doch wenn wir eine Tat bewerten wollen, müssen wir sie uns erklären. Und auch das scheinbar Unerklärbare folgt einer inneren Logik.
Wenn ein Mensch extrem gewalttätige Phantasien entwickelt und diese so stark werden, dass er sie in die Tat umsetzen muss, liegen die Ursprünge bereits in der Kindheit. Jeder Mensch hat Phantasien, die ihm helfen, sich zwischendurch aus der Realität zurückzuziehen, wenn diese gerade unbefriedigend oder belastend ist. Junge Mädchen träumen vielleicht vom Prinzen, der sie auf Händen durchs Leben trägt, Jungs vielleicht davon, ein Held zu sein. Auch Erwachsene träumen, etwa von der Insel in der Südsee oder davon, dem Chef mal richtig die Meinung zu sagen. Diese Phantasien befriedigen Bedürfnisse. Sie beheben Mängel, beispielsweise an Anerkennung oder Zuwendung, oder sie lindern eine Kränkung. Wenn diese Mängel oder Verletzungen jedoch sehr häufig erfahren werden oder sehr groß sind, können die Phantasien besonders viel Raum einnehmen. Die Tagträume werden dann immer intensiver ausgelebt und können Formen annehmen, die man in der Fachsprache als »deviant« bezeichnet, im Alltagsgebrauch als »pervers«.
Ein Junge hat zum Beispiel keine Freunde und erlebt keinen liebevollen Umgang in der Familie. Er fühlt sich minderwertig und sehnt sich nach Größe, nach Überlegenheit. Er wird erniedrigt und träumt zum Ausgleich davon, andere zu erniedrigen. Vielleicht widerfährt ihm auch körperliche Gewalt, und er träumt davon, so stark zu sein, dass er nicht mehr geschlagen wird, sondern selbst schlägt. Vielleicht beginnt er auch, diese Träume in die Tat umzusetzen, indem er Jüngere traktiert oder Tiere quält.
In der Pubertät gewinnen diese Phantasien noch größere Wucht. Es geht auf das Erwachsenwerden zu, die gesellschaftlichen Erwartungen steigen – und damit die Frustration, wenn man sie nicht erfüllen kann. Sexualität spielt nun auch eine Rolle. Aufgrund seines schwachen Selbstwertgefühls gelingt es dem Jungen vielleicht nicht, Kontakt zu gleichaltrigen Mädchen zu bekommen. Auch das ist erniedrigend. Die erwachte sexuelle Lust und das Bedürfnis nach Größe, Macht oder Gewalt vermischen sich. Der Junge masturbiert zu seinen Macht- und Gewaltphantasien, das schafft ihm Befriedigung und Erleichterung. Er belohnt sich auf diese Art selbst: Wenn ich davon träume und masturbiere, geht es mir besser. Es setzt ein Lernprozess ein.
Die Phantasien werden wichtiger und detaillierter, sie werden vielleicht angereichert mit Komponenten aus Pornofilmen oder sexuellen Prahlereien, die er von anderen gehört hat. Vielleicht spielen
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