Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
dort fassen?
Die Berliner Polizei kann nicht rund um die Uhr alle 9491 öffentlichen Apparate der Stadt überwachen. Aber die Analyse seiner Anrufe hat ergeben, dass Dagobert geschlossene Kartentelefonzellen bevorzugt mit freiem Blick auf die Umgebung. Es bleiben rund 1500 Telefonzellen übrig. 3000 Beamte in Zivil sollen sie überwachen. Hubschrauber sollen über der Stadt kreisen, aus denen sich Spezialisten abseilen können.
Nach über einem Monat kommt der nächste Brief, in dem Dagobert einen Anruf für den 30. 6. ankündigt. Der Anruf geht ein. Er kommt von einem Münztelefon in Berlin-Köpenick. Nicht von einem Kartentelefon.
Noch immer bestimmt Dagobert, was wir erfahren. Und noch immer können wir ihm nichts mitteilen.
Mir ist klar, dass der Erpresser auch selbst ein Bedürfnis nach mehr Kommunikation haben dürfte. Er hätte wahrscheinlich gerne absolute Kontrolle und Sicherheit. Darum hält er uns auch von sich fern. Aber dieser Mensch würde vermutlich zugleich liebend gerne alles wissen wollen. Er ist wahrscheinlich frustriert nach den gescheiterten Übergaben, hat auch viele Fragen an uns. Wir müssen ihn nur zum Gespräch einladen. Ihn locken. Wieder setzen sich der Polizeiführer und wir von den »Täterkontakten« zusammen und entwickeln ein Konzept.
Am 30. 8. 1993 klingelt es am Karstadt-Telefon. Diesmal wartet unser Sprecher nicht auf die gewohnte Computerstimme. Er sagt sofort: »Bitte legen Sie nach Ihrer Nachricht nicht auf! Wir haben eine wichtige Mitteilung für Sie!« Dagobert spielt das Band ab. Aber er legt nicht auf. Und so sagt unser Sprecher ihm, dass wir ihm in Zukunft gerne mit einer Zeitungsannonce in der BZ Dinge mitteilen würden. Ob das in Ordnung sei für ihn? Ja, das sei es, antwortet eine menschliche Stimme.
Wir haben zum ersten Mal Dagobert sprechen gehört.
Insgeheim haben wir gehofft, dass wir seine Stimme aufnehmen und sie zur Fahndung über die Radiosender abspielen können. Leider spricht er mit verstellter Stimme, einer Kopfstimme, wie ein Kastrat. Dieses Piepsen wird niemand identifizieren können. Aber er hat zum ersten Mal mit einem eigenen Tabu gebrochen und mit uns geredet. Ich vermute, dass das für ihn auch erleichternd gewesen ist. Er wird es weiterhin tun.
Das war der entscheidende Schritt für uns.
Die nächste Übergabe kündigt er diesmal mit seiner eigenen, verstellten Stimme an. Er hat zuvor per Post einen kleinen Schlüssel an Karstadt geschickt. Nun gibt er durch, dass der dazugehörige Briefkasten in einem Haus in Berlin-Charlottenburg hängt, darin wird der Bote neue Instruktionen finden.
Wir haben ein Konzept entwickelt, um die Initiative zu ergreifen. Der Sprecher wartet scheinbar unabsichtlich, bis die Piepsstimme die Adresse genannt hat, und sagt dann entschuldigend, dass die Übergabe aus organisatorischen Gründen am heutigen Tag nicht stattfinden könne. Dagobert legt auf.
Die MEK -Beamten sollen den Briefkasten observieren und zugreifen, falls Dagobert seine Anweisung, das Funkgerät und die Taschenlampe, die er darin deponiert hat, holen will. Natürlich erscheint Dagobert nicht. Aber wir haben einen Erfolg errungen: Wir sind endlich mit ihm im Dialog. Wir können ihn beeinflussen.
Wir verschieben beim nächsten Anruf den Übergabetermin wieder aus »organisatorischen Gründen« und kündigen eine Zeitungsanzeige an mit dem Termin für ein nächstes Telefonat. Zu diesem Zeitpunkt sollen wieder die Berliner Telefone observiert werden. Aber Dagobert spielt nicht mit. Die Annonce erscheint zwar, doch er ruft erst ein paar Tage später an. Er hat sich für diesen Anruf sogar an einen Privatanschluss angeklemmt, indem er den Telefonkasten eines Hauses aufschraubt und sich über einen Draht an die Leitung anschließt. Das tut er noch zweimal. Und dann geschieht etwas, was wir für unwahrscheinlich gehalten haben.
Am 3. 11. 1993 um 22:01 Uhr explodiert im Karstadt Magdeburg Dagoberts fünfte Bombe – in einem Putzraum.
Es ist das erste Mal, dass er zuschlägt ohne eine gescheiterte Übergabe. Hat er unsere Taktik durchschaut? Natürlich hat er einkalkuliert, dass der Anschluss, von dem er anruft, geortet werden kann, so wie er immer versucht, alles einzukalkulieren. Es scheint uns aber unwahrscheinlich, dass er ahnt, dass wir gleich alle Berliner Kartentelefone überwachen lassen. Ich schätze es eher so ein, dass ihm die Kontrolle zu schnell entglitten ist, als wir einfach seinen Termin ablehnten und selbst einen Vorschlag machten.
Weitere Kostenlose Bücher