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Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)

Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)

Titel: Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Brockmann
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würde in diesem Fall die Verantwortung weit von sich schieben: »Ich habe alles getan, um das zu verhindern. Hättet ihr gezahlt, wäre das nicht passiert!« Diese Art der Selbstrechtfertigung verwendet er bereits in seinen Briefen. Auf diese Weise kann er das Verbrechen vermutlich für sich selbst legitimieren. Auch das ist eine eher unreife Haltung: Er nimmt sich als Opfer wahr und versucht dadurch, sein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten, obwohl er ein Gewaltverbrechen begeht und Menschenleben gefährdet.
    Es ist klar, dass wir beim nächsten Versuch unbedingt verhindern müssen, dass der Täter sich »gelinkt« und damit »gezwungen« fühlt. Er darf keine leere Geldtasche mehr in die Hände bekommen. Wir müssen ihn entweder bei der Übergabe fassen oder zumindest dafür sorgen, dass er das Paket nicht untersuchen kann. Am besten wäre es, wenn wir ihm eine gute Erklärung dafür liefern könnten, damit er sich nicht ausgetrickst fühlt. Aber dazu müssen wir versuchen, irgendwie mit ihm in Kontakt zu kommen.
    Am 1. 10. kündigt ein Brief die nächste Geldübergabe an. Der Plan ist weniger kompliziert: Über Telefon will Dagobert den Zug durchgeben, den der Bote nehmen soll. Das Geld soll in einen weißen Stoffbeutel gepackt werden und nach einem Funksignal diesmal einfach per Hand abgeworfen werden.
    Wir haben alle mit einer Zugübergabe gerechnet. Der Täter hält an seiner Vorgehensweise fest und verfeinerte sie nur weiter. Sein Plan soll ihm Distanz zu den Verfolgern garantieren. Er ist von seiner Taktik überzeugt. An ihm hat es ja nicht gelegen, dass er nicht zu seinem Geld gekommen ist.
    Wir sind gut vorbereitet. Zugriffskräfte und Hundeführer warten im Zug, Hubschrauber sollen die Bahntrasse überwachen. Der Anruf kommt, die Computerstimme nennt den IC 537 Hamburg–Dresden, die Beamten besteigen den Zug. Aber was nicht kommt, ist das Abwurfsignal des Täters.
    Bekommt er Angst?
    Wahrscheinlich, aber dieser Mann wird wohl kaum aufgeben.
    Elf Tage später folgt der nächste Brief. Darin steht, dass der Täter sich gestört gefühlt und darum abgebrochen hätte. Er kündigt eine Übergabe für den nächsten Tag an. In Berlin-Charlottenburg kommt das Signal, das Paket wird abgeworfen. Der Täter holt es jedoch nicht. Im nächsten Brief erklärt Dagobert, dass eine Baustelle seine Planung durcheinandergebracht hat. Und: »Ich habe jedesmal bei der Geldübergabe große Angst und reagiere deshalb sehr empfindlich auf Störungen.« Er kündigt eine erneute Übergabe an, wieder aus einem Zug heraus. Wieder kein Signal. Wieder keine Übergabe.
    Bei diesen Duellen geht es uns nicht ums »Weichkochen«. Das Geduldsspiel ist nur leider manchmal unausweichlich. Es stimmt natürlich: Eine steigende Nervosität des Täters ist für uns eine Chance, weil sie ihn zu Fehlern verführt. Aber sie erhöht auch das Risiko.
    Am 26. 10. gibt es einen erneuten Versuch. Unser Bote wird in den IC 174 von Berlin Richtung Hamburg beordert. Zwischen den S-Bahnhöfen Savignyplatz und Charlottenburg ertönt über CB -Funk die Computerstimme und fordert zum Abwurf auf. Das Paket fliegt neben die Gleise. Niemand nähert sich. Aber jemand läuft davon.
    Mittlerweile zieht sich das Duell Dagobert gegen die Polizei über fünf Monate hin. Eine solch lange Zeit ist für alle anstrengend. Die Bevölkerung wird immer unruhiger. Die Presse beginnt die Polizei zu kritisieren. Aber am belastendsten ist es für den Täter: Seine Angst vor einer Festnahme wächst stetig. Er weiß, dass er immer mehr von sich preisgibt, aber er kann es nicht verhindern. Zugleich werden seine Ressourcen knapper.
    Anfangs reiste Dagobert noch durch die Republik. Er schickte seine Briefe aus verschiedensten Städten ab, führte seine Telefonate aus ganz Norddeutschland. Doch je länger die Erpressung läuft, desto stärker scheint er seinen Aufwand zu reduzieren. Und das sorgt dafür, dass wir näher an ihn herankommen. Immer häufiger kommen die Briefe aus Berlin oder Umgebung. Immer häufiger kommen jene Anrufe, die wir zurückverfolgen können, aus Berlin und Umgebung. Es ist klar: Dort lebt der Täter.
    Wir halten es für wahrscheinlich, dass er mit zunehmender Zeit seine Übergaben dorthin verlegen wird. Darum hat das MEK Berlin ein »Bahntrassenkonzept« erstellt. Alle Gleise in der Stadt werden auf Stellen abgesucht, an denen jemand guten Zugang hat und zugleich unentdeckt fliehen kann. Deshalb stehen auch an der Gerviniusstraße in Berlin-Charlottenburg

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