Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
zwei Beamte. Und so sehen sie diesen Mann, der erst auffällig um die Gleise schleicht, dann zu dem vorbeifahrenden Zug in Richtung des Pakets läuft, schließlich abdreht und zu einem Fahrrad rennt. Und so springt einer der Beamten aus dem Wagen und bekommt den Mann noch an einem Ärmel zu packen.
Und dann rutscht der Polizist auf dem nassen Gras aus. Er sieht den Mann nur von hinten und kann sein Gesicht nicht erkennen.
Unsere Abläufe haben eine gewisse Routine in jener Zeit. Der Hauptsitz der Aufbauorganisation »Dagobert« liegt im Hamburger Polizeipräsidium, da in Hamburg auch die erste Bombe hochging und Anzeige erstattet wurde. Der Führungsstab trifft sich hier jeden Tag, oben im achten Stock des Hochhauses mit Blick über die Dächer bis hin zum Hafen. Fünfzehn Leute sitzen um den großen Tisch, jeder ein Telefon vor sich, für den Fall, dass in seinem Bereich etwas Neues vorgefallen ist – eine frische Spur, ein neues Schreiben oder ein nachverfolgter Telefonanschluss.
Zuerst wird immer die »Lage« besprochen: Was gibt es Neues? Dann werden die letzten Maßnahmen nachbereitet. Wir überlegen, was als Nächstes vom Täter kommen wird und wie wir darauf reagieren sollen. Denn noch immer können wir in diesem Machtspiel vorrangig nur reagieren.
In den Tagen nach der Übergabe in Berlin ist die Stimmung besonders gedrückt. Wir waren so nahe dran. Und in den Zeitungen steht: Dagobert kann entkommen, weil ein Polizist auf »Hundescheiße« ausrutscht. Das stimmt nicht, aber es zeigt, wie die Rollen in der Öffentlichkeit verteilt sind: Wir sind die Dummen. »Klüger als die Polizei erlaubt«, wird geschrieben. Wir müssen mit den Medien zusammenarbeiten, denn wir haben eine Informationspflicht und brauchen sie auch als Sprachrohr. Die Aufmerksamkeit ist immens: Mittlerweile observieren die Journalisten sogar die Polizei. Wenn das MEK -Team zu einem Einsatz aufbricht, folgt ihm ein Tross von Reportern. Die Berichterstattung ist durchaus schmeichelnd für den Erpresser. Bei einer Straßenumfrage geben viele der Befragten an, dass sie Sympathien für den Erpresser haben. Es ist, als ob die Bevölkerung sich Dagoberts Argumentation zu eigen gemacht hätte.
Für mich ist das ein faszinierender Einblick in das, was man gerne »Massenpsyche« nennt. Man könnte sogar sagen, diese Stimmung ist ein Beleg dafür, dass in jedem von uns ein kleiner Dagobert schlummert, der klammheimlich allerhand Grenzüberschreitungen legitimiert. Die Menschen scheinen das zu glauben, was sich Dagobert selbst einredet: Dass ein kleiner Mann das Recht hat, einen großen Konzern zu erleichtern, dass Cleverness und raffinierte Tüftelei doch irgendwie belohnt werden müssen. Wie der Erpresser klammern viele anscheinend aus, dass diese Tat nicht nur ein Verstoß gegen irgendwelche Gesetze ist, sondern gefährlich, rücksichtslos – ja, auch menschenverachtend.
Aber immerhin hat Dagobert nun für einen Moment die Kontrolle verloren.
Es ist kaum überraschend, was folgt. Weitere Briefe, weitere angekündigte Übergaben, weitere Züge, weitere Abwürfe, bei denen er nicht erscheint. Er bleibt seinem Plan treu, obwohl er anscheinend selbst nicht mehr imstande ist, ihn durchzustehen. Das wirkt fast zwanghaft auf mich und lässt mich erneut vermuten: Wir haben es mit einem unsicheren Menschen zu tun, der hin- und hergerissen ist zwischen seinem großen Traum und seinen großen Ängsten.
Aber wie können wir ihn fassen, wenn er immer ängstlicher wird?
Die Übergaben bieten weiterhin die beste Gelegenheit. Aber die Einsätze sind sehr aufwendig. Wir können nicht ewig den ganzen Apparat in Bewegung setzen für Übergaben, zu denen es dann doch nicht kommt. Wir müssen Dagobert zu mehr Zuverlässigkeit bewegen. Und dafür müssen wir mit ihm kommunizieren.
Nur wie?
Wir machen aus der Not eine Tugend. Die Aufmerksamkeit der Presse bringt uns auch einen Vorteil: Es ist klar, dass Dagobert die Berichte über sich verfolgt. Also können wir ihn wenigstens auf diesem Kanal erreichen. Der Polizeiführer Michael Daleki muss ein Interview geben und Dagobert dabei eine Botschaft zukommen lassen.
Daleki, der Pressesprecher und ich setzen uns zusammen. Wir gehen das Profil durch. Der Täter braucht das Gefühl, die Fäden in der Hand zu halten. Außerdem ist der Glaube an die Erfüllung seiner Forderungen für ihn immens wichtig. Können wir ihn dort packen? Ihm sagen, dass wir glauben, er habe aufgegeben, weil er keine Chance habe? Können wir
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