Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
reisten, mussten in eine Schlucht des Cross River hinuntersteigen, wo das Orakel in einer hohen, mit Menschenschädeln gesäumten Höhle untergebracht war. Die Priester, die mit den Sklavenhändlern unter einer Decke steckten, übermittelten die Sprüche des Orakels. Oft teilte man den Besuchern mit, sie müssten sich vom Orakel »verschlucken« lassen, was bedeutete, dass man sie aus der Höhle zum Cross River und zu den wartenden Schiffen der Europäer brachte.
Dieser Prozess, bei dem sämtliche Gesetze und Bräuche dazu missbraucht wurden, immer mehr Sklaven zu erbeuten, hatte verheerende Auswirkungen auf die politische Zentralisierung, wiewohl er in manchen Gegenden zur Entstehung mächtiger Staaten führte, deren Hauptdaseinszweck Überfälle und Sklavennahme waren. Das Königreich Kongo war wahrscheinlich das erste afrikanische Land, das eine Metamorphose zu einem Sklavenhändlerstaat durchmachte, bis es durch Bürgerkrieg zerstört wurde. Andere Sklavenhändlerstaaten bildeten sich vor allem in Westafrika heraus. Zu ihnen gehörten Oyo und Nigeria, Dahomey und Benin und später Ashanti und Ghana.
Zum Beispiel verdankt sich die Vergrößerung des Staates Oyo in der Mitte des 17. Jahrhunderts dem Anstieg der Sklavenexporte an der Küste. Die Macht des Staates stützte sich auf eine Militärrevolution, für die man Pferde aus dem Norden importiert hatte, um eine schlagkräftige Kavallerie zur Vernichtung gegnerischer Heere aufzubauen. Während die Streitmacht von Oyo südwärts zur Küste vorstieß, überwältigte sie die sich ihr entgegenstellenden Staaten und verkaufte viele ihrer Bewohner in die Sklaverei. Zwischen 1690 und 1740 errichtete Oyo ein Monopol landeinwärts an der künftigen Sklavenküste. Man schätzt, dass 80 bis 90 Prozent der dort verkauften Sklaven bei solchen Eroberungszügen gefangen genommen worden waren.
Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen Krieg und Sklavennachschub entwickelte sich im 18. Jahrhundert weiter westlich an der Goldküste, das heißt im heutigen Ghana. Nach 1700 expandierte das Ashanti-Königreich, ähnlich wie früher der Staat Oyo, aus dem Innern in Richtung Küste. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts löste diese Expansion die Akan-Kriege aus, in deren Verlauf Ashanti einen unabhängigen Staat nach dem anderen besiegte. Der letzte, Gyaman, wurde 1747 erobert. Die überwiegende Mehrheit der 375000 zwischen 1700 und 1750 von der Goldküste exportierten Sklaven bestand aus Gefangenen jener Kriege.
Dieser massive Verlust an Menschen wirkte sich auf die Demographie aus. Die Bevölkerungszahl in Afrika vor der Neuzeit lässt sich kaum feststellen, doch Wissenschaftler haben verschiedene Schätzungen über die Auswirkungen des Sklavenhandels auf die Einwohnerzahl vorgelegt. Der Historiker Patrick Manning nimmt an, dass die Bevölkerung der Gebiete West- und West-Zentralafrikas, aus denen zahlreiche Sklaven exportiert wurden, im frühen 18. Jahrhundert zweiundzwanzig bis fünfundzwanzig Millionen betrug. Aufgrund der vorsichtigen Hypothese, dass diese Gegenden ohne den Sklavenhandel im 18. und frühen 19. Jahrhundert ein Bevölkerungswachstum von jährlich rund einem halben Prozent erlebt hätten, schätzt Manning, dass die Einwohnerzahl um 1850 bei mindestens sechsundvierzig bis dreiundfünfzig Millionen hätte liegen müssen. In Wirklichkeit umfasste sie nur die Hälfte.
Der gewaltige Unterschied war nicht nur darauf zurückzuführen, dass zwischen 1700 und 1850 etwa acht Millionen Menschen als Sklaven aus der Region exportiert wurden, sondern auch darauf, dass weitere Millionen der ständigen Kriegführung mit dem Ziel der Sklavennahme zum Opfer gefallen sein dürften. Sklaverei und Sklavenhandel in Afrika schädigten außerdem die Familien- und Ehestrukturen und trugen möglicherweise zu verringerten Geburtenraten bei.
Im späten 18. Jahrhundert entstand in Großbritannien eine starke Bewegung zur Abschaffung des Sklavenhandels, angeführt von dem charismatischen William Wilberforce. Nach wiederholten Fehlschlägen konnte er das britische Parlament 1807 dazu bewegen, ein Gesetz, durch das der Sklavenhandel für illegal erklärt wurde, zu verabschieden. Die Vereinigten Staaten schlossen sich im folgenden Jahr mit einem entsprechenden Gesetz an. Die britische Regierung ging jedoch noch weiter: Sie bemühte sich, der Maßnahme Geltung zu verschaffen, indem sie Marinegeschwader zur Bekämpfung des Sklavenhandels im Atlantik einsetzte. Obwohl es einige Zeit
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