Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
[solle], bis ein Verstoß gegen die Verfassung zweifelsfrei nachgewiesen ist«. Roosevelt ging zum Angriff über:
In den letzten vier Jahren hat man die vernünftige Richtlinie, das Gültigkeitsprinzip anzuwenden, verworfen. Der Gerichtshof hat nicht als Justizorgan, sondern als politisches Gremium agiert.
Der Präsident erklärte, er sei von den Wählern beauftragt worden, diese Situation zu ändern, und er habe nach eingehenden Überlegungen, welche Reformen verfassungsmäßig seien, beschlossen, »all unsere Gerichte aufzufrischen«. Zudem seien die Mitglieder des Supreme Court überlastet, was besonders auf die älteren Richter zutreffe – also, wie es der Zufall wollte, auf diejenigen, die seine Gesetzgebung ablehnten. Dann schlug er vor, sämtliche Richter ab siebzig Jahren in den Zwangsruhestand zu versetzen, wonach er bevollmächtigt werden solle, bis zu sechs neue Richter zu ernennen. Durch diesen als Judiciary Reorganization Bill präsentierten Plan wäre es Roosevelt gelungen, die von konservativeren Regierungen ernannten und sich dem New Deal am energischsten widersetzenden Richter zu entfernen.
Obwohl sich Roosevelt geschickt um die Unterstützung der Öffentlichkeit bemühte, ging aus Meinungsumfragen hervor, dass nur ungefähr 40 Prozent der Bevölkerung den Plan guthießen. Louis Brandeis, inzwischen Mitglied des Obersten Gerichtshofs, befürwortete Roosevelts Gesetzgebung überwiegend, bezog jedoch Stellung gegen die Versuche des Präsidenten, die Macht des Supreme Court zu untergraben, und widersprach seiner Behauptung, dass die Richter überlastet seien. Roosevelts Demokratische Partei verfügte zwar in beiden Kammern des Kongresses über eine hohe Mehrheit, aber das Repräsentantenhaus sträubte sich gegen Roosevelts Vorlage. Daraufhin wandte sich Roosevelt an den Senat, und sein Vorschlag wurde an das Senate Traditional Committee weitergereicht, das mehrere Sitzungen abhielt, in denen kontroverse Positionen vertreten wurden, und verschiedene Meinungen über den Antrag einholte. Schließlich schickte es das Dokument mit dem negativen Bescheid an die Plenarversammlung des Senats zurück, der Entwurf sei eine »unnötige, nutzlose und äußerst gefährliche Aufgabe des Verfassungsprinzips … ohne Präzedenzfall oder Rechtfertigung«. Der Senat beschloss mit 70 zu 20 Stimmen, die Vorlage vom Komitee umschreiben zu lassen. Alle Anmerkungen zu den Richterernennungen wurden gestrichen, so dass Roosevelt die Kontrolle seiner Macht durch den Supreme Court nicht beseitigen konnte. Immerhin kam es zu Kompromissen, denn das Gericht erklärte sowohl den Social Security Act als auch den National Labor Relations Act für verfassungsmäßig.
Wichtiger als das Schicksal dieser beiden Gesetze war die Lektion, die man aus der Episode ziehen konnte. Inklusive politische Institutionen bremsen nicht nur größere Abweichungen vom Kurs inklusiver Wirtschaftsinstitutionen, sondern sie widersetzen sich auch Versuchen, ihre eigene Fortdauer zu beeinträchtigen. Es wäre ein unmittelbarer Vorteil für den von den Demokraten beherrschten Kongress gewesen, neue Mitglieder in den Gerichtshof einzubringen und allen New-Deal-Gesetzen Geltung zu verschaffen. Aber ähnlich wie die politische Elite Britanniens im frühen 18. Jahrhundert begriff, dass eine Aufhebung der Rechtsstaatlichkeit die Zugeständnisse gefährdete, die sie der Monarchie abgerungen hatte, erkannten die Kongressabgeordneten und Senatoren, dass eine Schwächung der Unabhängigkeit der Richter durch Roosevelt auch das Gleichgewicht der Kräfte verschieben würde, das sie vor dem Präsidenten schützte und das Fortbestehen der pluralistischen politischen Institutionen gewährleistete.
Vielleicht wäre Roosevelt als Nächstes zu der Ansicht gelangt, dass er zu viel Kompromissbereitschaft und Zeit benötigte, um die für die Gesetzgebung erforderlichen Mehrheiten zu erhalten, und hätte beschlossen, per Dekret zu regieren, wodurch der Pluralismus und das politische System der USA untergraben worden wären. Der Kongress hätte ein solches Vorgehen nicht gebilligt, aber Roosevelt hätte sich an die Nation wenden und behaupten können, der Kongress behindere die zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise notwendigen Maßnahmen. Er hätte den Kongress sogar durch die Polizei schließen lassen können. Das klingt weit hergeholt? Genau das geschah in den 1990er Jahren in Peru und Venezuela. Die Präsidenten Fujimori und Chávez beriefen sich auf ihren
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