Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
Zerstörung. Doch das hinderte sie nicht daran, ein begrenztes Wachstum unter extraktiven Institutionen zu erzielen. Die Lage in der Sowjetunion war ähnlich, nur dass die Industrie die gleiche Rolle spielte wie der Zucker in der Karibik. Das industrielle Wachstum in der UdSSR wurde außerdem dadurch angekurbelt, dass ihre Technik im Vergleich zu Europa und den Vereinigten Staaten bis dahin äußerst rückständig gewesen war. So konnte man allein schon dadurch große Zuwächse erzielen, dass man dem Industriesektor neue Mittel zuteilte, auch wenn das angewandte Verfahren ineffizient war und gewaltsam vollzogen wurde.
Vor 1928 lebten die meisten Russen auf dem Lande. Die Bauern benutzten eine primitive Technik, und sie hatten weder zur Zeit des russischen Feudalismus noch unter Stalin Anlass, produktiv zu arbeiten. Wenn man diese Arbeitskräfte aber von der Landwirtschaft in die Industrie umverteilte, entstand ein gewaltiges Wirtschaftspotential, und die stalinistische Industrialisierung war eine brutale Methode zur Freisetzung des Potentials. Obwohl die Industrie ineffizient organisiert war, stieg das Volkseinkommen zwischen 1928 und 1960 jährlich um 6 Prozent – wahrscheinlich der bis dahin größte ökonomische Wachstumsschub in der russischen Geschichte. Er stützte sich, wie gesagt, nicht auf den technologischen Wandel, sondern auf die Umverteilung von Arbeitskräften und die Erzielung von Einnahmen durch den Bau neuer Fabriken und den Einsatz von neuen Geräten in einer zuvor technisch unterentwickelten Gesellschaft. Das Wachstum beschleunigte sich so sehr, dass Generationen von Westlern getäuscht wurden, nicht bloß Lincoln Steffens. Auch die Central Intelligence Agency (CIA) der Vereinigten Staaten wurde hinters Licht geführt, nicht zu reden von Sowjetführern wie Nikita Chruschtschow, der 1956 in einer Rede vor westlichen Diplomaten bekanntermaßen prahlte, dass »wir euch [den Westen] begraben werden«. Noch 1977 behauptete ein englischer Ökonom in einem maßgeblichen Hochschullehrbuch, dass Volkswirtschaften sowjetischen Stils kapitalistischen hinsichtlich des Wachstums überlegen seien, da sie für Vollbeschäftigung und Preisstabilität sorgten und die Menschen sogar auf altruistische Weise motivierten. Der beklagenswerte westliche Kapitalismus sei nur in der Gewährung politischer Freiheiten überlegen. Und ein von Nobelpreisträger Paul Samuelson verfasstes ökonomisches Lehrbuch, das an den Universitäten mit Eifer gelesen wurde, prognostizierte mehrfach die ökonomische Vormachtstellung der Sowjetunion. In der Ausgabe von 1961 sagte Samuelson voraus, das sowjetische Volkseinkommen werde jenes der Vereinigten Staaten möglicherweise schon vor 1984, mit großer Wahrscheinlichkeit jedoch bis 1997 übertreffen. In der Ausgabe von 1980 blieb die Analyse so gut wie unverändert, doch die beiden Daten waren durch 2002 und 2012 ersetzt worden.
Zwar bewirkten die Maßnahmen Stalins und späterer Sowjetführer tatsächlich ein schnelles Wirtschaftswachstum, aber es handelte sich um keinen nachhaltigen Aufschwung. In den 1970er Jahren kam das Wachstum praktisch zum Stillstand. Die wichtigste Lektion daraus lautet, dass extraktive Institutionen aus zwei Gründen keinen dauerhaften technologischen Wandel auslösen können: wegen des Mangels an Anreizen und wegen des Widerstands durch die herrschenden Eliten. Nachdem all die ineffizient genutzten Ressourcen in die Industrie umgeleitet worden waren, konnten kaum noch wirtschaftliche Zugewinne per Kommando erreicht werden, denn der Mangel an Innovation und die dürftigen ökonomischen Anreize bremsten jeglichen weiteren Fortschritt. Das einzige Gebiet, auf dem mit enormen Anstrengungen gewisse Innovationen aufrechterhalten wurden, war die Militär- und Raumfahrttechnologie. Beispielsweise gelang es dem Sowjetstaat, den ersten Hund, Laika, und den ersten Menschen, Juri Gagarin, ins All zu befördern. Daneben hinterließ die UdSSR der Welt das Sturmgewehr AK-47 als eines ihrer Vermächtnisse.
Gosplan war die angeblich allmächtige Planbehörde, die für die zentrale Lenkung der Sowjetwirtschaft verantwortlich war. Einer der Vorzüge der Fünfjahrespläne, die Gosplan ausarbeitete und deren Umsetzung es verwaltete, sollte der für rationale Investitionen und Neuerungen erforderliche lange Zeitrahmen sein. In Wirklichkeit hatte das, was in der Sowjetindustrie umgesetzt wurde, jedoch wenig mit den ursprünglichen Fünfjahresplänen zu tun, da man diese zu
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