Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
häufig revidierte, umschrieb oder schlicht außer Acht ließ. Die Entwicklung der Industrie beruhte auf Befehlen Stalins und des Politbüros, die häufig ihre Meinung änderten oder ihre früheren Entscheidungen sogar völlig umstießen. Sämtliche Pläne wurden als »Entwürfe« oder als »vorläufig« bezeichnet. Nur ein einziger als »endgültig« etikettierter Plan – für die Leichtindustrie von 1939 – ist je publik geworden. Stalin selbst sagte 1937: »Nur Bürokraten können glauben, dass die Planung mit der Vorlage des Planes endet. Die wahre Richtung des Planes bildet sich erst dann heraus, wenn er zusammengestellt worden ist.«
Stalin wollte seinen Ermessensspielraum für die Auszeichnung von politisch loyalen Einzelpersonen und Gruppen und für die Bestrafung seiner Gegner maximieren. Und die Hauptaufgabe von Gosplan bestand darin, Stalin Informationen zu liefern, damit er seine Freunde und Feinde besser überwachen konnte. Die Mitarbeiter von Gosplan versuchten sogar, Entscheidungen zu vermeiden, denn wenn sich eine als Fehlschlag erwies, konnte man erschossen werden. Damit empfahl es sich, jeglicher Verantwortung aus dem Weg zu gehen.
Ein Beispiel für das, was geschehen konnte, wenn man auf seinem Auftrag beharrte, statt auf die mutmaßlichen Wünsche der Kommunistischen Partei einzugehen, wird durch die sowjetische Volkszählung von 1937 geliefert. Während die Ergebnisse eintrafen, wurde immer klarer, dass sie auf eine Bevölkerungszahl von rund 162 Millionen hinauslaufen würden – viel weniger als die 180 Millionen, die Stalin erwartet, und sogar weniger als die 168 Millionen, die er selbst 1934 angekündigt hatte. Seit 1926 war kein Zensus mehr durchgeführt worden, womit es sich um den ersten handelte, der die Hungersnöte und Säuberungen der frühen 1930er Jahre einbezog, was sich in den Bevölkerungszahlen widerspiegelte. Daraufhin ließ Stalin die Organisatoren des Zensus verhaften und nach Sibirien schicken oder erschießen. Er ordnete eine Wiederholung an, die 1939 stattfand. Diesmal taten die Organisatoren das Richtige, indem sie feststellten, dass die UdSSR 171 Millionen Einwohner hatte.
Stalin begriff, dass die Menschen in der Sowjetwirtschaft kaum einen Ansporn zum Arbeiten besaßen. Die natürliche Reaktion hätte darin bestanden, Anreize zu schaffen, und manchmal tat er genau das – beispielsweise ließ er Lebensmittelvorräte zur Belohnung von Produktivitätssteigerungen umlenken. Auch gab er bereits 1931 den Gedanken auf, »sozialistische Männer und Frauen« erschaffen zu können, die ohne finanzielle Entlohnung arbeiten würden. In einer berühmten Rede kritisierte er die »Gleichmacherei«, wonach nicht nur unterschiedliche Löhne für unterschiedliche Tätigkeiten gezahlt, sondern auch Prämiensysteme eingeführt wurden.
Es ist lehrreich, die Funktionsweise solcher Systeme zu betrachten. In der Regel musste eine Fabrik die per Plan festgesetzten Produktionsziele erreichen, obwohl die Pläne häufig neu verhandelt und geändert wurden. Von den 1930er Jahren an erhielten Beschäftigte Prämien, wenn sie die Norm erfüllten. Diese Beträge konnten recht hoch sein: bis zu 37 Prozent des Lohnes für leitende Angestellte oder Chefingenieure. Aber auch dadurch entstanden Hindernisse für den technologischen Wandel. Zum einen riskierte man bei Neuerungen, für die Mittel aus der laufenden Produktion abgezogen werden mussten, dass die Normen nicht erfüllt und die Prämien nicht gezahlt wurden. Zum anderen beruhten die Normen gewöhnlich auf dem früheren Produktionsniveau. Dadurch entfiel die Motivation, die Produktionsraten zu steigern, da dies bedeutete, dass die Behörden künftige Normen entsprechend heraufsetzen würden. Sein Potential nicht zu nutzen war stets der beste Weg, wenn man die Norm auch in Zukunft erfüllen und Prämien erhalten wollte. Die Tatsache, dass die Beträge monatlich gezahlt wurden, hatte ebenfalls zur Folge, dass sich alle auf die Gegenwart konzentrierten, während Innovation bedeutet, heute Opfer zu bringen, um morgen die Gewinne einzuheimsen.
Auch wenn Prämien und Anreize das Verhalten ändern konnten, schufen sie häufig andere Probleme. Die zentrale Planung war einfach nicht geeignet, das zu ersetzen, was der große Ökonom des 18. Jahrhunderts, Adam Smith, die »unsichtbare Hand« des Marktes nannte. Wenn der Plan die Produktion einer bestimmten Anzahl von Tonnen Stahlblech vorschrieb, geriet das Blech zu dick; wenn er eine
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