Warum tötest du, Zaid?
Soldaten denken, die in Ramadi gestorben sind und noch sterben werden. An die noch viel größere Zahl irakischer Zivilisten, die durch amerikanische Soldaten – aber auch durch Al-Qaida und durch die Todesschwadronen machthungriger Politiker – ihr Leben verloren haben und noch verlieren werden. Und an die vielen Schwerverletzten, Verkrüppelten auf beiden Seiten.
Trotz meiner Müdigkeit bin ich heute sehr angespannt und unruhig. Bei jedem lauten Geräusch vor dem Hoftor zucke ich zusammen. So ähnlich fühlte ich mich zuletzt in den achtziger Jahren bei meinen Besuchen in Afghanistan, wenn sowjetische Hubschrauber über uns kreisten und wir in Feldgräben oder unter Bäumen in Deckung gehen mussten. Oder 1960 in Algier, als ich während des Freiheitskriegs der Algerier einige Tage bei einer arabischen Familie verbrachte. Auch damals hatten wir immer angstvoll aufgehorcht, wenn auf den Straßen ein Auto anhielt oder unvermittelt laute Stimmen zu hören waren.
Heute Nacht herrscht eine unheimliche, fast gespenstische Atmosphäre. Immer wieder fliegen Hubschrauber so tief über unser Haus, als würden sie dort oder in der Nähe etwas Bestimmtes suchen. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich endlich einschlafe. Ich träume schreckliche Dinge und wache mehrfach auf.
Irgendwann, es ist noch halb dunkel, steht Abu Saeed neben mir. »Wir müssen sofort los. Irgendwelche Gruppen haben fest verabredet, uns heute einen Besuch abzustatten. Über Sie gibt es die wildesten Gerüchte. Zu viele Leute haben Sie gesehen. Und die Kinder haben den Nachbarkindern stolz erzählt, dass bei ihnen ein Fremder wohnt, der Englisch spricht. Die Menschen in Ramadi haben seit Jahren keinen Westler ohne amerikanische Begleitung mehr gesehen.
Außerdem gibt es hier wahrscheinlich noch immer einzelne ausländische Al-Qaida-Terroristen. Sie müssen ganz schnell hier raus. Mit Ortswechseln ist jetzt nichts mehr zu machen.«
Verschlafen murmle ich, dass wir noch zwei weitere Tage in Ramadi vereinbart hätten. Was ich bisher gesehen hätte, sei nur eine Momentaufnahme. Ich bräuchte noch viel mehr Zeit, um alles zu verstehen. Aber Abu Saeed ist unerbittlich. Die Lage sei jetzt sehr kritisch.
Die Amerikaner, so Abu Saeed, hätten ihre Kontrollen verschärft, weil es in Anbar wieder zu schweren Kämpfen gekommen sei. Zwischen Falludscha und Ramadi sei ein Chinook-Hubschrauber abgeschossen worden, und bei Rutba sei eine amerikanische Patrouille beim Überqueren einer Brücke über die Autobahn auf eine Mine gefahren. Das Fahrzeug sei völlig zerstört und die Brücke schwer beschädigt worden. Die gesamte amerikanische Armee der Provinz Anbar befinde sich in Alarmbereitschaft.
Während ich noch mit meiner Müdigkeit kämpfe, führt Abu Saeed ein hektisches Telefonat. Wütend brüllt er etwas ins Telefon, was so klingt wie »Almani«, Deutscher. Der Name »Al-Qaida« und das Wort »Razzia« fallen mehrfach. Abu Saeed entschuldigt sich bei mir, er könne die Verantwortung für meine Sicherheit jetzt nicht mehr übernehmen.
Schlaftrunken sammle ich meine Sachen ein. In Anbar bei einer amerikanischen Razzia festgenommen zu werden oder meine Gastgeber in eine lebensbedrohliche Lage zu bringen, das muss nicht sein. Da hat Abu Saeed völlig recht. Trotzdem wäre ich gerne noch länger geblieben. Ich habe noch tausend unbeantwortete Fragen zum Irak.
Aber Abu Saeed schnaubt: »Wir müssen jetzt wirklich weg. In einer Stunde kommen wir hier nicht mehr raus.
Die machen jetzt alles zu.« Resigniert gehe ich zum Wagen. Heute Morgen gibt es keinen Kaffee.
Musa hat den Motor bereits angelassen. Ich sehe, dass Abu Saeed schon im Wagen sitzt. Seine Familie bleibt diesmal zu Hause. Abu Saeed hatte keine Zeit mehr, die Mitreise seiner Frau oder anderer Familienmitglieder zu organisieren.
Als ich einsteigen will, steht plötzlich Zaid vor mir: »Ich würde Sie gerne in Deutschland besuchen – wenn der Krieg zu Ende ist. Darf ich mich dann an Sie wenden?«, fragt er leise. »Du darfst«, sage ich und habe ein schrecklich schlechtes Gewissen, dass ich all diese Menschen in ihrem Elend zurücklassen muss. »Ruf mich an, wenn es für dich oder deine Familie meinetwegen Schwierigkeiten gibt. Ich werde versuchen, dir zu helfen. Ich habe es dir versprochen.« Zaid dreht sich schweigend um.
Ich werde diesen jungen Mann nie vergessen, egal, was geschieht. Nie die vielen Tränen der Menschen, denen ich in Ramadi begegnet bin. Verdammter, verlogener, verlorener Krieg –
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