Warum unsere Kinder Tyrannen werden
entwickeln.
Besonders das Phänomen des Rückzugs vor den Computer, das für die meisten Hikikomoris charakteristisch ist, scheint mir einen Bezug zur deutschen Lage zu erlauben, da sich dieses Phänomen auch hierzulande mittlerweile sehr weit verbreitet hat. Jugendliche, die ihre Freizeit im Wesentlichen vor dem Computer verbringen, vermeiden damit auch die Notwendigkeit, sich mit realen menschlichen Gegenübern im normalen sozialen Kontakt üben zu müssen. Virtuelle Interaktivität, wie sie in Zeiten von Web 2.0 gepredigt wird, ist letztlich eine trügerische Interaktivität, da der User vor dem Computer die Interaktion jederzeit von sich aus, rein lustgesteuert, unter- oder gar abbrechen kann. Der User obliegt damit genau jener frühkindlichen Fantasie, seine Umwelt nach Belieben steuern zu können, ja, es scheint gar, als wenn er sie im wahrsten Sinne des Wortes an- und abschalten kann, wie es ihm gerade recht ist. Die »Nervenzelle Mensch« ist also vor dem Computer nicht notwendig, da das virtuelle Gegenüber wie ein Gegenstand erscheint, der nicht die Fähigkeit besitzt, den User zu beeinflussen oder zu bestimmen.
Kinder, die in einer symbiotischen Beziehungsstörung zu ihren Eltern groà werden und denen die »Nervenzelle Mensch« fehlt, sind also durchaus in der realen Gefahr, zu deutschen Hikikomoris zu werden. Die Entwicklung in Japan zeigt dabei unter anderem, dass die betroffenen Menschen nach einiger Zeit des totalen Rückzugs auch erhebliches Aggressionspotential entwickeln, dass sich bisweilen auch in Form von starker körperlicher Gewalt, meist gegen die eigene Familie, äuÃert.
Deutlich erkennbar ist an dieser extremen Form der Störung
die Auflösung jeglicher gesellschaftlicher Strukturen, das unbedingte Bemühen, Kontakt und Auseinandersetzung mit anderen Menschen zu vermeiden. Denkt man die von mir nachgezeichnete Entwicklung über Partnerschaftsdenken, Projektion und Symbiose konsequent weiter, ist nur zu ersichtlich, dass am Ende etwas ganz Ãhnliches auch in unserem Kulturkreis entstehen könnte.
Fallbeispiele
Ein Beispiel aus dem Heimbereich - Wie Symbiose den Blick der Eltern aufs Kind verstellt
Der elfjährige Markus ist seit zwei Jahren im Heim untergebracht, da er lügt, klaut und bei bester Intelligenz die Schulleistung verweigert. Während eines Besuchswochenendes - die Kinder verbringen im 14-tägigigen Rhythmus die Wochenenden bei den Eltern zu Hause - schenkt er seinem 13-jährigen Bruder ein teures Playstationspiel.
Als der Vater den Jungen zurück ins Heim bringt, erzählt der Vater der Heimleitung stolz, Markus habe dieses Spiel dem gröÃeren Bruder von seinem Taschengeld geschenkt. Der Hinweis, dass Markus nicht so viel Geld besessen habe, führt dazu, dass der Vater eine erneute Lüge seines Sohnes provoziert. Markus gibt an, das Geld geheim gespart zu haben. Anrufe in dem Geschäft, in dem er das Spiel während einer Freizeit gekauft haben will, ergeben eindeutig, dass es so nicht gewesen sein kann. Das genannte Geschäft führt überhaupt keine Spiele. Aber auch das überzeugt den Vater nicht.
Erst als durch ein anderes Kind bestätigt werden kann, dass Markus das Spiel und noch einige mehr in einem Spielwarengeschäft
gestohlen hat, lassen den Vater die Tatsachen wahrnehmen. Dennoch fragt er im Zuge der Absprache mit der Heimleitung, wie mit den gestohlenen Waren umzugehen sei, ob die Spiele an Markus zurückgegeben würden, falls er sie doch nicht gestohlen habe.
Wenn die »Nervenzelle Mensch« fehlt
Eine Lehrerin berichtet über ihren Schüler Yanik: Zunächst fiel hauptsächlich die Art auf, mit der Yanik Kontakte zu knüpfen versuchte. Er berührt seine Klassenkameraden an Haaren, Bauch, Rücken oder Armen. Es kommt auch vor, dass er sich jemandem an den Hals »klettet«. Er wird von seinen Mitschülern oft schroff zurückgewiesen, was ihn allerdings nicht daran hindert, dieses unerwünschte Verhalten fortzusetzen. Andererseits findet es Yanik sehr unangenehm, wenn Kinder sich ihm nähern. Er wehrt sofort ab, schreit »Nein« oder »Lass mich in Ruhe« oder reagiert häufig aggressiv, womit er Konflikte provoziert.
Yanik spricht fast tonlos und heiser, aus sich heraus bleibt er stumm und äuÃert sich nur im Notfall Erwachsenen gegenüber. Zu seinen Mitschülern kann er keinen adäquaten verbalen Kontakt
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