Warum unsere Kinder Tyrannen werden
gehe. Es wird dabei übersehen, dass mit einer Delegierung des Problems an Therapeuten und Politik keine Veränderung herbeigeführt werden kann.
Der Lehrer am virtuellen Pranger - Cyberbullying
Man muss gar nicht allzu aufmerksam die Berichte in Zeitungen und Zeitschriften verfolgen, der Trend drängt sich geradezu auf: Lehrer klagen schon seit vielen Jahren über die zunehmende Respektlosigkeit ihrer Schüler, über tätliche Angriffe und die scheinbare totale Sinnlosigkeit ihrer Arbeit als Pädagogen.
Zuletzt hat sich im Zuge dieser Entwicklung ein neuer Trend etabliert, der geeignet ist, die gravierenden Bewusstseinsveränderungen auf dem Boden der Symbiose vor Augen zu führen. Cyberbullying (bullying bedeutet in etwa soviel wie »tyrannisieren«), ein in England entstandener Begriff, der langsam auch in Deutschland an Bekanntheit gewinnt, und bezogen auf das Verhältnis von Lehrern und Schülern nichts anderes bezeichnet als ein modernes An-den-Pranger-stellen von Lehrern auf diversen Internet-Seiten. Von scheinbar noch harmlosen Bewertungs-Seiten, auf denen Schüler Noten für ihre Lehrer vergeben können, bis hin zu den einschlägig bekannten Video-Portalen, auf denen Gewaltakte gegen Lehrer vorgeführt oder diese auf verschiedene Weise lächerlich
gemacht werden, hat sich eine enorme Bandbreite an Möglichkeiten etabliert, Pädagogen virtuell zu belästigen.
So gibt es das Beispiel einer Realschullehrerin aus Westfalen, die sich tagelang über das Tuscheln und Grinsen ihrer Schüler sowie die eine oder andere anzügliche Frage wunderte, bis sie dem Ganzen nachging. SchlieÃlich musste sie feststellen, dass Schüler ihren Kopf im Internet auf den nackten Körper eines Pornostars montiert hatten. Die Seite war für jeden zugänglich, unmöglich, zu kontrollieren, wie viele Kollegen, Freunde, Bekannte, Schüler und fremde Menschen das Bild bereits gesehen hatten.
Diese Lehrerin war anschlieÃend lange Zeit kaum noch in der Lage, normal weiterzuleben. Die Schamgefühle auf Grund dieser Bilder blockierten jeden Umgang mit ihrer Umgebung, bis sie es schlieÃlich mit Hilfe ihres Mannes schaffte, über eine psychologische und juristische Beratung aus dem Teufelskreis auszubrechen.
Für mich ist letztlich vor allem die Reaktion der Schüler interessant, als die Lehrerin schlieÃlich versuchte, mit diesen über den Vorfall zu reden und die Gründe für den »Streich« zu erfahren. Mit »Wir wollten Spaë und »Das war geil« war die Geschichte für die Schüler abgehakt. Darüber hinaus wies man sie darauf hin, dass es ja noch Kollegen gebe, denen es schlimmer ergangen sei. Die Schüler verwiesen etwa auf einen Lehrer aus Bayern, dessen Kopf ein 14-Jähriger in ein Hinrichtungsvideo gebastelt hatte, das er anschlieÃend ebenfalls im Netz veröffentlichte.
»Spaë. »Geil«. Wie Signalwörter muten diese Schüleraussagen an. Welchen Stellenwert mögen die betroffenen Lehrer wohl für die agierenden Schüler haben? Als Menschen mit Gefühlen und individuellen Rechten werden sie jedenfalls offensichtlich nicht betrachtet, oder um es auf den Punkt zu bringen: Von der »Nervenzelle Mensch« ist hier keine Spur,
die Lehrer werden gegenständlich behandelt, sie sind Material, Zielobjekt für die lustgesteuerte Aggressivität der Schüler.
Wie gering ausgeprägt das Bewusstsein dafür ist, was mit solchen Vorgängen eigentlich passiert, zeigt etwa auch die Reaktion der Betreiber einer einschlägigen Lehrer-Bewertungswebsite. Da wird dann schon mal in einem solchen Zusammenhang das Recht auf freie MeinungsäuÃerung bemüht und die Website als »freie demokratische Meinungsplattform« deklariert, die die armen Schüler endlich in die Lage versetze, dem ewigen durch die Lehrer diktierten Notenstress etwas Adäquates entgegenzusetzen.
»Freie MeinungsäuÃerung« als Rechtfertigung für das Recht auf verbale Gewaltausübung. Klarer kann man die defizitäre, von der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung überforderte Erwachsenenwelt kaum vor Augen geführt bekommen. Psychische Funktionen wie ein Handlungen steuerndes Gewissen sind vollkommen auÃer Kraft gesetzt und können in der Folge auch der nachwachsenden Generation nicht mehr vermittelt werden. Auch die Betreiber der Internet-Seite unterliegen mindestens einem
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