Was allein das Herz erkennt (German Edition)
sagen, wohin sie ging. Sie waren auf einem kleinen Friedhof am Ufer des Ibis River in Black Hall bestattet, umgeben von Kiefern und einer Steinmauer. Der Schnee war geschmolzen und Krokusse lugten aus dem braunen Gras hervor.
May ging den Steinweg entlang. Sie war nervös, kam sich vor, als würde sie Leute besuchen, die sie kaum kannte. Sie war früher oft mit ihrer Großmutter auf den Friedhof gekommen. Emily pflegte die Gräber ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes, rechte das Laub im Herbst, pflanzte Blumen im Frühjahr und erzählte May Geschichten über ihre Eltern. Tobin hatte sie manchmal begleitet. Aber als May älter wurde und damit beschäftigt war, sich ein eigenes Leben aufzubauen, war sie nicht mehr oft hier gewesen.
Das war ihr erster Besuch seit Jahren. Das Laub war gegen die Grabsteine geweht und das Einzige, was hier noch wuchs, war Unkraut. May senkte den Kopf, um sich gegen den Märzwind zu schützen, und legte die Hand auf den Grabstein. Er fühlte sich kalt an.
Die Namen ihrer Eltern waren in den Stein gemeißelt, und die Geburts- und Sterbedaten. Samuel und Abigail Taylor. Während sie die Buchstaben berührte, wünschte sich May, sie wüsste, warum sie hierher gekommen war. Ringsum breiteten sich Hügel und Wälder aus, still und menschenleer. Der Ibis River, ein schmaler Fluss, der in den mächtigen Connecticut mündete, trug eine dünne Eisschicht am Ufer. Braune Blätter und abgestorbenes Gras, vom Frost zusammengeschweißt, lagen auf dem Grab. Sie kniete sich hin und begann, die Blätter aufzusammeln.
Dabei berührte ihr Kopf den Grabstein. Sie dachte voller Liebe an ihre Mutter und ihren Vater. So viel Zeit war vergangen, seit sie ihre Eltern zum letzten Mal gesehen hatte! Sie war erwachsen geworden, hatte selbst ein Kind bekommen, hatte geheiratet.
Ein Wind kam auf, verwehte die Blätter.
May senkte den Kopf und weinte.
Sie dachte an all die gemeinsamen Jahre, die ihnen entgangen waren. Es war grausam und unfair. Ihre Eltern lagen unter der Erde, nur wenige Meilen von Bridal Barn entfernt, während andere Leute lebten und die Tage, Jahreszeiten und Jahre als selbstverständlich hinnahmen. Sie dachte an Martin und seinen Vater, die Zeit mit ihrem Zwist vergeudeten, wie schrecklich auch immer die Dinge sein mochten, die zwischen ihnen geschehen waren.
Mit geschlossenen Augen versuchte May, das Bild ihres Vaters heraufzubeschwören. Sie erinnerte sich an ihn, an seine haselnussbraunen Augen und sein schnelles, strahlendes Lächeln. Sein Gesicht war voller Liebe. Dann sah sie wieder seine verletzte Miene vor sich, als sie ihm wütend den Rücken zugedreht hatte.
Was hatte Dr. Whitpen gesagt? Dass es Kindern wie Kylie half, zu wissen, dass man sie verstand. May dachte vierundzwanzig Jahre zurück und erinnerte sich daran, wie sie sich gefühlt hatte, als ihr Vater starb und sie nicht mehr hören konnte.
»Ich liebe dich, Dad«, flüsterte May nun und berührte den Stein. »Das wollte ich dir sagen.«
Er antwortete nicht. Im Gegensatz zu Kylie konnte sie nicht durch den Schleier sehen oder hören. Aber seltsam war, dass sie fest daran glaubte, dass er sie nun zu hören vermochte. Ein Schauder lief über ihren Rücken, als hätte er ihren Scheitel berührt.
May spürte die Liebe ihres Vaters; sie zweifelte plötzlich nicht mehr daran, dass er bei ihr war. Er hätte ihr gesagt, dass er sie ebenfalls liebe, dass er ihr schon lange verziehen habe, und ihr war, als könne sie seine Stimme hören. Der Märzwind wehte durch das Geäst der Bäume, die Zweige rieben sich raschelnd aneinander. May blieb noch ein paar Minuten vor dem Grab auf ihren Knien sitzen, dann fuhr sie nach Hause. Sie hatte das Gefühl, als sei eine Bürde von ihr genommen, und sie wusste nun, was sie zu tun hatte.
14
E ines Abends, als der Winter in den Frühling überging und Martin zu Hause war, machten sie alle zusammen einen Spaziergang den Beacon Hill hinunter zum Public Garden. Die untergehende Sonne tauchte Bostons alte Backsteingebäude in rosiges Licht, und vor dem hellen Horizont griffen die kahlen Zweige der Bäume im Stadtpark ineinander wie ein schwarzes schmiedeeisernes Gitter. Kylie lief voraus, um sich die Enten anzuschauen, und May und Martin folgten ihr langsam.
»Martin Cartier!«, rief eine Schar junger Burschen begeistert und umringte ihn. Er gab ihnen Autogramme in ihre Notizbücher oder was immer sie hatten, doch als ein Paar, dreißig oder darüber, sich ihm näherte, schüttelte er stumm
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