Was allein das Herz erkennt (German Edition)
dorthin gebracht hatten, an die Lügen, die er erzählt, an die Menschen, denen er Schaden zugefügt hatte.
Gestern Abend hatte sie sich das blaue Notizbuch wieder vorgenommen. Sie hatte alles aufgeschrieben, was während Kylies Fiebertraum geschehen war, wie sie aufgeschrien und »Zusammenbringen« gemurmelt hatte. May hielt das Tagebuch in der Hand und blickte die Postkarte an, dann nahm sie den Hörer ab und wählte die Nummer in Toronto.
»Ich hatte gehofft, wieder von Ihnen zu hören«, sagte Ben Whitpen.
»Es hat wieder angefangen«, sagte May. »Lange Zeit dachte ich, die Träume wären ein für allemal vorbei. Aber neulich Abend –«
Dr. Whitpen schwieg, während sie ihm alles erzählte. Zu guter Letzt erwähnte sie die Postkarten, die Serge ihnen schickte.
»Hat Kylie sie gesehen?«
»Ich glaube nicht.«
»Hat sie gehört, wie Sie zu Martin gesagt haben, dass Sie seinen Vater kennen lernen wollen?«
»Nein. Er wird wütend, wenn ich das Thema anspreche, und ich achte darauf, nicht vor ihr mit ihm zu streiten.«
»Sie sagten, dass Kylie während ihres Fiebers geglaubt hatte, dass Natalie sprach.«
»Ja.« Mays Herz klopfte. »›Zusammenbringen‹, hat Kylie immer wieder gesagt. ›Wir müssen sie zusammenbringen, Mommy.‹«
Der Doktor schwieg und May hörte, wie die Tastatur seines Computers im Hintergrund leise klickte.
»Hat sie Ihnen gesagt, wen sie denn zusammenbringen möchte?«
»Nein. Das war die ganze Botschaft.«
»Kylies Botschaft oder Natalies?«
»Kylie sagte, sie sei von Natalie gekommen. Aber es war niemand außer uns beiden im Raum«, erwiderte May hastig.
»Für Kylie schon.«
»Ich war doch dabei, hätte doch etwas bemerken müssen!«
»Sie sehen nicht, was Kylie sieht.«
»Wollen Sie sagen, dass sie Natalie sieht?«
»So einfach ist das nicht«, sagte er nach einer Pause.
»Das klingt nach Hirngespinsten. Aber sie ist nicht verrückt. Bestimmt ist die Fantasie wieder einmal mit ihr durchgegangen. Sie hat ein großes Herz und viel Einfühlungsvermögen gegenüber Menschen, die leiden.«
»Sprechen Sie von Natalie?«
»Ja.«
»Ich glaube eher, dass es an etwas anderem liegt …«, begann Dr. Whitpen, dann wechselte er abrupt das Thema. »Die metaphysische Erklärung steht in Zusammenhang mit der Ankunft dieser Postkarten. Sie haben etwas ausgelöst, Mrs. Cartier.«
»In Kylie?«
»Nicht in ihr, nein. In ihrem Umfeld .«
May holte tief Luft und bedeckte die Augen mit ihrer Hand.
»Aber ich habe keiner Menschenseele etwas von den Postkarten erzählt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kylie sie gesehen hat.«
»Sie spürt, dass etwas in der Luft liegt, zum Beispiel die Gefühle, die sie bei Ihnen in Gang gesetzt haben. Oder die Macht der Sehnsucht, die Serge empfindet.«
»Aber wie kann das sein?«
»Der Schock beim Anblick dieses Gehängten, dieses Richard Perry, hat damals wie ein Katalysator gewirkt, um Kylies Gabe zum Vorschein zu bringen; und mit den Postkarten ist es nun das Gleiche: Sie haben etwas an die Oberfläche befördert, was Kylie gespürt hat.«
»Wovon reden Sie?«
»Es hat mit Martin und seinem Vater zu tun, wie ich aus Ihren Worten schließe«, sagte Dr. Whitpen. »›Zusammenbringen‹ lautete die Botschaft, oder?«
»Ja, aber –«
»Ich bin überzeugt, dass es um Martin und seinen Vater geht.«
»Das ist unmöglich.«
»Das sind viele Dinge in der metaphysischen Welt«, sagte Dr. Whitpen.
»Das geht über Kylies Begriffsvermögen hinaus. Die Probleme zwischen Martin und seinem Vater sind viel zu tiefgründig, als dass jemand in ihrem Alter sie verstehen könnte.«
»Wirklich?«, fragte Dr. Whitpen mit sanfter Stimme. »Es wäre nicht das erste Mal, dass ein junger Mensch in einer krisengeschüttelten Situation Veränderungen bewirkt. Mir kommt auf Anhieb David in den Sinn. Oder Hamlet.«
»Das ist doch absurd. Das sind Gestalten aus der Bibel, aus der Literatur. Ich rede über meine Tochter. Sie hatte Fieber, sie war krank.«
»Ich weiß, dass es schwer zu begreifen ist, Mrs. Cartier. Aber Sie tun das Richtige. Notieren Sie alles.«
»Ich habe gar keine andere Wahl. Sonst würde ich selbst den Verstand verlieren.«
»Wenn Sie dazu bereit sind, hoffe ich, dass Sie Kylie wieder zu mir bringen. Ich glaube, dass ihr die Besuche gut tun. Kindern wie Kylie hilft es, zu wissen, dass man sie versteht.«
May bedankte sich und legte auf.
Am Nachmittag besuchte May das Grab ihrer Eltern, ohne Tobin oder Tante Enid Bescheid zu
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