Was allein das Herz erkennt (German Edition)
mit seinem Vater sprach. Was war, wenn er wirklich wütend wurde und beschloss, auch nicht mehr mit Mommy und ihr zu reden?
Im Raum war es dunkel, bis auf den Fernseher. Draußen schneite es und sie hörte einen großen Schneepflug vorbeifahren. In Boston war es lauter als in Black Hall, aber das störte Kylie nicht. Seit sie in einer Stadt lebte, kam sie sich vor wie im Märchen. Sie bewohnte ein großes, prunkvolles Haus, und letzte Woche war ein riesiger Lastwagen gekommen, voller Möbel, die Mommy bestellt hatte, um die großen Zimmer einzurichten. Martin brachte Kylie von jeder Reise Spielsachen mit. Das Einzige, was ihr nicht gefiel, war, wenn sie sich zankten.
Doch das Beste war, dass sie Martin hatten. Nicht wegen der Spielsachen oder wegen des Hauses, sondern weil sie sich immer einen Vater gewünscht hatte. Manchmal schickte er ihnen ein Fax aus seinem Hotel, und wenn sie nachsahen, war immer auch eines für Kylie dabei. Manchmal zeichnete er für sie einen Bären auf Schlittschuhen, weil ein bruin das französische Wort für Bär war. Auf ihrer Lieblingszeichnung war eine Bärenmutter und ein kleines Bärenmädchen zu sehen, und auf ihrer Porridge-Schüssel stand der Name ›Kylie‹.
Obwohl sie ihn immer noch nicht ›Daddy‹ nennen konnte, hatte Kylie das Gefühl, endlich einen Vater zu haben. Er deckte sie zu und erzählte ihr Gutenachtgeschichten, wenn er zu Hause war. Gemeinsam träumten sie davon, über den ganzen Lac Vert zu rudern und eines Tages die Urgroßvater-Forelle zu sehen. Wenn sie zur Schule ging, war Kylie stolz, nicht weil sie im Haus von Martin Cartier lebte, der ein berühmter Eishockeystar war, sondern weil sie einen Vater hatte.
»Vater, Vater, Vater«, sagte Kylie laut.
»Was ist, Liebes?« Mommy sah vom Fernseher hoch und zu ihr hinüber.
»Ach nichts«, murmelte Kylie. Ihr Kopf fühlte sich heiß an und sie wusste, dass sie einen Fiebertraum hatte. Ihre Gedanken schweiften ab, sie vermisste ihre alte Schule. Kylie vermisste alle, sogar Mickey und Eddie, ein bisschen wenigstens.
Die Kinder in Boston waren anders. Sogar am Samstag nahmen sie Unterricht und lernten alles Mögliche: ein Musikinstrument, malen, Gymnastik, Eis laufen, reiten oder Kunstgeschichte im Bildermuseum.
Manchmal fragten die Mütter Mommy, ob Kylie nicht Lust hätte, auch an einem der Kurse teilzunehmen, aber sie wollte nicht und Mommy zwang sie nicht dazu. Sie verstand, dass Kylie lieber spielen als ständig etwas dazulernen wollte.
Sie hatte nicht oft Fieber, aber wenn, fiel sie manchmal in eine Art Wachschlaf. Dinge, die gar nicht wirklich sein konnten, kamen ihr dann wirklich vor. Dinge, von denen sie Dr. Whitpen erzählte.
Wie der Wäschekorb auf der anderen Seite des Raumes. Er sah aus wie ein Gnom, der sich hingekauert hatte und alle schmutzigen Hemden, Socken und Kopfkissen bewachte, als hüte er einen kostbaren Schatz, den er sich einverleibt hatte. Und der Wecker auf Martins Seite des Bettes sah mit seinem flachem Kopf und den rot glühenden Augen aus wie ein Gespenst.
»Versprich mir, dass du mich nie verlässt«, flüsterte Kylie und klammerte sich an ihre Mutter.
»Das verspreche ich dir.« May strich ihr die Haare aus der verschwitzten Stirn.
»Warum müssen sich die Dinge verändern?«, fragte Kylie mit brennender Kehle. »Warum können die guten Dinge nicht so bleiben, wie sie sind? Für immer und ewig.«
»Ich liebe dich, Kylie. Für immer und ewig.«
Mommys weißes Nachthemd auf dem Schaukelstuhl bewegte sich und einen Moment lang dachte Kylie, es sei Natalie. Plötzlich spürte sie eine Botschaft in ihrem Herzen, als käme sie direkt von Martins Tochter: Zusammenbringen, bring sie zusammen.
»Wen zusammenbringen, Mommy?«, fragte Kylie.
*
An dem Tag, als Kylie wieder so weit genesen war, dass sie zur Schule gehen konnte, traf eine weitere Postkarte ein. Auf dieser war ein Stadtpark im Winter abgebildet, und Kinder, die auf einem zugefrorenen Weiher Schlittschuh liefen. Als May sie umdrehte, sah sie, dass es sich um ein Ansicht aus dem Dexter Park in Estonia handelte. Die Nachricht lautete: »Er spielt in diesem Jahr besser als je zuvor. Das muss daran liegen, dass Sie ihm viel Liebe entgegenbringen. Ich auch.«
Wie die anderen war auch diese Karte nicht unterschrieben. May fragte sich, ob Serge sie im Laden des Gefängnisses gekauft oder ob sie ihm jemand geschenkt hatte. Der Mann saß hinter Gittern, aber er war ihr Schwiegervater. Sie dachte an die Dinge, die ihn
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