Was allein das Herz erkennt (German Edition)
schließlich den Mut aufgebracht, in ihr gemeinsames Schlafzimmer zu gehen. Er hoffte, dass sie nicht wieder von vorne anfing und wissen wollte, ob er seine Meinung geändert hatte. Weihnachten stand vor der Tür und vermutlich hatte sie die fixe Idee, den alten Mann im Gefängnis zu besuchen; aber das konnte sie sich aus dem Kopf schlagen, eher würde die Hölle gefrieren! Zitternd schlich Martin auf Zehenspitzen zum Bett.
Im Licht der Straßenlaterne, das durch das Fenster schien, sah er, dass sie das Gesicht zur Wand gedreht hatte. Ihre Schultern sahen angespannt aus und ihr Atem ging in kurzen Stößen, als sei sie wach.
»May?«, flüsterte er.
»Hallo.«
»Ich konnte nicht schlafen.«
»Ich auch nicht.«
Er stand reglos da, berührte ihr Haar. Sein Herz klopfte und er wartete darauf, dass sie fragte, ob er es sich anders überlegt hatte. Aber sie sagte nichts.
Sie drehte sich herum und breitete die Arme aus. Ihr Körper war warm, warm wie das Bett, als Martin unter die Laken schlüpfte. Er hielt ihre Hand, wusste, dass er bald los musste, eine ganze Woche weg sein würde, und fragte sich, warum sie ihre letzte gemeinsame Nacht wegen eines dummen Streits vergeudet hatten.
»Ich möchte nicht weg.«
»Ich bin trotzdem froh, dass du ins Bett gekommen bist.«
»Es schneit. Vielleicht wird der Flug ja gestrichen.«
»Hoffentlich.« Ihre Lippen brannten, als sie ihn küsste.
13
D as All-Star-Spiel war für den 10. Februar in Calgary angesetzt und Martin war als rechter Flügelstürmer für die East Conference aufgestellt. Kylie und May hätten ihn in den Nordwesten Kanadas begleiten sollen, aber Kylie war an einer Halsentzündung erkrankt, so dass sie zu Hause in Boston bleiben mussten.
In ihr Bettzeug eingemummelt, verfolgte Kylie das Spiel im Fernsehen. Mommy saß im Sessel auf der anderen Seite des Raumes und feuerte Martin an, als befände sie sich direkt neben der Eisbahn.
»Wo ist Ray?«, fragte Kylie. »Wo sind die anderen Bruins?«
»Martin ist der einzige Bruin, der für das All-Star-Team aufgestellt wurde. Das ist etwas ganz Besonderes, denn nur die besten Spieler aus den verschiedenen Clubs werden in das Team aufgenommen.«
»Bist du böse, dass ich krank geworden bin?«
»Warum sollte ich böse sein?«, fragte Mommy lächelnd.
»Weil du lieber dort wärst.«
»Ich möchte hier sein, bei dir, und dich pflegen.«
Kylie nickte. Das Sprechen tat weh, deshalb schonte sie ihre Stimme. Sie war nicht daran gewöhnt, zwei Elternteile zu haben, und manchmal hörte sie wütende Stimmen am anderen Ende des Flurs. Martin konnte so laut brüllen, dass das ganze Haus wackelte. Mommy wurde auch manchmal laut, aber meistens schluckte sie ihre Wut herunter, verschränkte die Arme über der Brust und presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Kylie konnte ihre wechselnden Stimmungen spüren und hatte Angst, dass sie aufhören könnten, sich lieb zu haben, und sich scheiden ließen, wie die Eltern anderer Kinder.
»Ist Martin böse, dass wir bei diesem All-Star-Dings nicht bei ihm sind?«, fragte sie.
»Natürlich nicht. Kylie, warum stellst du all diese Fragen?«
»Weil ich möchte, dass wir zusammenbleiben.« Kylies Kehle brannte.
»Wir sind zusammen.«
»Warum trennen sich Familien?«
»Oh, ich weiß nicht, Liebes. Manchmal klappt es einfach nicht, auch wenn sich die Leute noch so viel Mühe geben. Zwei Menschen wünschen sich mitunter ganz andere Dinge vom Leben, oder ihre Wertvorstellungen sind zu verschieden, oder sie stellen fest, dass sie nicht miteinander reden können.«
»Können sie nicht wenigstens so tun als ob?«
Kylies Frage hatte Mommy traurig gemacht, denn ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie senkte den Kopf, aber als sie ihn wieder hob, lächelte sie. »Das ist nie der richtige Weg. ›Man muss sich selbst treu bleiben‹, heißt ein altes Sprichwort. Weißt du, was das bedeutet?«
»Nein, was?«
»Es bedeutet, dass deine eigenen Gefühle genauso wichtig sind wie die jeder anderen Person. Du solltest dich selbst nie kleiner machen, als du bist.«
»Auch nicht, um besser mit jemandem auszukommen?« Ihr Hals war rau und schmerzte, und sie hielt die Hand ihrer Mutter.
»Nicht einmal dann. Man kann Kompromisse eingehen, aber man sollte nie etwas vortäuschen.«
»Kom-pro-misse?«
»Ein bisschen nachgeben.«
Kylie schloss die Augen. Sie wusste, dass Martin geschieden war, dass er weit von Natalie entfernt gelebt hatte und dass er bis heute kein einziges Wort
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