Was allein das Herz erkennt (German Edition)
beim nächsten Geburtstag, oder? Ich finde, wir sollten dieselbe Eisbahn mieten und die größte Schlittschuhparty feiern, die Boston je gesehen hat.«
»Eine Schlittschuhparty?« Ihre Stimme klang zweifelnd.
» Bien sûr.«
»Aber so gut kann ich nicht Schlittschuh laufen. Und Ellens Freundinnen sind viel zu gut für mich. Sie haben alle Unterricht im Eistanz, und ich falle immer nur hin.«
»Hinfallen ist wichtig, damit man lernt, wieder aufzustehen«, sagte Martin. »Du machst das ganz prima auf dem Weiher.«
»Wenn du dabei bist.«
»Ich komme mit dir zu deiner Party.«
»Ehrlich?«
»Wenn ich in Boston bin.« Er hielt inne. Dann sagte er nachdenklich: »Als ich sechs war, bekam ich von meinem Vater neue Schlittschuhe zum Geburtstag. Richtige Eishockey-Schlittschuhe, mein erstes Paar; ich sag dir, die fuhren sich völlig anders. Ich bin damit aufs Eis und nur hingefallen. Meine Beine waren so wackelig wie bei einem Fohlen, das gerade geboren wurde.«
»Aber dein Vater hat dir geholfen?«
»Kann sein. Ich werde dir jedenfalls helfen.«
»Schön, dass Väter so etwas tun«, sagte Kylie mit glänzenden Augen.
»Dazu sind Väter da.«
Kylie blickte Martin lange an, dann legte sie die Hände um sein Gesicht. Ihre Miene war besorgt, als versuchte sie zu entscheiden, wie sie es ihm am besten beibringen könnte.
»Natalie hat Recht«, sagte sie, und Mays Herz begann zu hämmern.
»Kylie, Liebes –«
»Was meinst du damit?« Martin wollte sich aufrichten, aber Kylie hielt ihn am Mantelkragen fest. Sie blickte ihm in die Augen. »Jeder braucht einen Vater. Sogar Väter, Daddy.«
»Was?«, fragte Martin.
»Daddy«, sagte Kylie abermals und schlang die Arme um seinen Hals. »Jeder braucht einen Vater, ganz doll.«
May hatte schon befürchtet, dass Kylie weitere Fragen über Serge stellen würde, aber das Kind hielt sich zurück. Für May wäre das eine gute Gelegenheit gewesen, Martin zu erzählen, dass sie im Gefängnis angerufen hatte und Serge besuchen wollte, aber sie hielt sich ebenfalls zurück. Kylie hatte Martin ›Daddy‹ genannt, und alle drei waren stumm vor Glück.
*
Seit Kylie angefangen hatte, ›Daddy‹ zu sagen, gab es kein Halten mehr. May hatte nicht gewusst, dass es so viele Sätze mit dem Wort ›Daddy‹ gab. Wie: »Gestern hat meine Lehrerin ein blaues Kleid in der Schule angehabt, aber Martha Cole hat rote Farbe auf den Fußboden gekleckert und als Miss Gingras sich hinkniete, um sie aufzuwischen, hatte sie vorne zwei purpurrote Flecke, wo ihre Knie waren – Daddy !« Oder: »Charlotte hat mir jetzt schon eine Karte zum Geburtstag geschickt, Daddy , mit einem Bild von einem Kanu, und sie sagt, im nächsten Sommer nimmt sie mich auf eine Kanufahrt mit, und dann zelten wir über Nacht. Aber ich muss eine Schwimmweste tragen, oder Daddy ?«
Martin schien Kylies überschwängliche Zuneigung zu genießen. Er strahlte jedes Mal über das ganze Gesicht, wenn sie ihn Daddy nannte, und wenn er unterwegs war, rief er jeden Abend zu Hause an und wollte kurz mit ihr sprechen, bevor er auflegte. Die Bruins hatten es wieder geschafft, sich für die Playoffs zu qualifizieren, und aufgrund der Termine konnte Martin an ihrem Geburtstag nicht dabei sein.
»Ist sie gekränkt?«, fragte er.
»Enttäuscht.«
»Es ist verrückt, einerseits möchte ich unbedingt gewinnen, du weißt, wie sehr, andrerseits wäre ich beinahe lieber zu Hause. Es tut mir so Leid, dass ich ihre Geburtstagsfeier verpasse. Ist sie immer noch so aufgeregt?«
»Sie hat Angst, sich zu blamieren. Einige dieser Bostoner Kinder haben seit zwei Jahren Unterricht im Eiskunstlaufen. Sie sind wesentlich besser als sie.«
»Eiskunstlaufen«, schnaubte Martin. »Ballett auf dem Eis – lächerlich.«
»Es sind kleine Mädchen«, lächelte May.
»Mädchen können auch Hockey spielen. Kylie ist ein Naturtalent, das sehe ich. Genau wie Nat und Genny, das steht fest. Ich werde mit ihr trainieren, sobald die Saison vorbei ist. Wir werden die grundlegenden Techniken üben, und dann bringe ich ihr bei, wie man Tore schießt. Eiskunstlaufen!« Er lachte.
May, die wusste, dass Kylie vor dem Spiegel Pirouetten übte, lächelte. Hinter der Ecke verborgen, hatte sie unbemerkt zugeschaut, wie Kylie tat, als würde sie wie in Schwanensee über das Eis gleiten. Sie hatte sich auf den Zehenspitzen um die eigenen Achse gedreht, war auf imaginären Kufen durch den Raum gelaufen. Eishockey war gewiss nicht das, wovon Kylie träumte, und
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