Was allein das Herz erkennt (German Edition)
recht!«, lachte Ray.
»Ich wünsche mir …«, begann Charlotte, dann vollendete sie, typisch für Mädchen im Teenageralter, lautlos ihren Wunsch.
May drückte Kylie an sich und küsste sie aufs Haar. Sie beugte sich herab, um zu fragen, was sich Kylie am Abend vor ihrem Geburtstag wünsche, als sie das eindringliche, kaum hörbare Flüstern ihrer Tochter vernahm, das nicht für menschliche Ohren bestimmt war: »Ich wünsche mir, dass Daddy nach Hause kommt.«
*
Seit er in Bosten war, tat Martin jeden Abend das Gleiche. Entweder verließ er das Eisstadion oder das Hotel, setzte sich in seinen Wagen und fuhr ziellos durch die Gegend. Er redete sich ein, dass er Luft und seinen Freiraum brauche, aber in Wirklichkeit brauchte er nur eines, May.
Er fuhr an seinem Haus in Boston vorbei, und wenn er ihren Wagen dort stehen und Licht hinter den Fenstern sah, war er beruhigt. Dann parkte er am Ende der Straße, im Schatten, und hielt Wache, bis die Lichter erloschen. An den Wochenenden, wenn Kylie schulfrei hatte, war sie nicht da, und deshalb fuhr er die ganze Strecke nach Black Hall, folgte ihnen mit abgeblendeten Scheinwerfern durch die Felder und vergewisserte sich, dass sie sicher im Farmhaus angekommen war.
Die Fenster zu beobachten und zu wissen, dass May und Kylie im Haus waren, vermittelte Martin in den Wochen des Alleinseins ein Gefühl, das Seelenfrieden am nächsten kam. Manchmal erhaschte er einen Blick auf sie, wenn sie die Vorhänge schloss oder von einem Zimmer ins andere ging; dann war er nahe daran, auf die Tür zuzugehen, sie in die Arme zu schließen und ihr zu gestehen, dass er den größten Fehler seines Lebens begangen hatte und sich nichts sehnlicher wünschte, als noch einmal von vorne zu beginnen.
Aber er war zu stolz dazu. Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte. May in die Arme zu schließen war eine wunderbare Vorstellung, aber wie er seine Frau kannte, wäre das erst der Anfang. Sie würde bis zum frühen Morgen und darüber hinaus aufbleiben und ihm auf den Zahn fühlen. May liebte es, zu diskutieren, Schlüsse zu ziehen und den Geheimnissen des Lebens auf den Grund zu gehen. Es war besser, sich von ihnen fern zu halten, vor allem jetzt: Er brauchte Zeit, um etwas zu verarbeiten, was ihm verwirrender und rätselhafter erschien als alles, was er jemals zuvor erlebt hatte.
Ray hatte ihm von Mays Besuch im Stadion erzählt. Wie er ihr vor der Tür zur Umkleidekabine begegnet war, als er das Eis verlassen hatte. Sie hatte ein gelbes Kleid getragen, war mutig und zu allem entschlossen gewesen. Ray hatte ihr angeboten, sie in einen der Konferenzräume zu bringen, aber May hatte abgelehnt, wollte an Ort und Stelle warten, um mit Martin zu sprechen.
Er war an ihr vorübergegangen, ohne sie zu sehen. Eine andere Erklärung gab es nicht.
Sie war ihm offenbar bis in die Umkleidekabine gefolgt. Als er unter der Dusche stand, hatte er Gelächter und anzügliche Bemerkungen gehört, und einige Jungs waren so unvorsichtig gewesen, ihn damit aufzuziehen.
Er war in Gedanken gewesen, in Gedanken an sie, anders konnte es nicht sein. Hatte sich nach ihr gesehnt, sie gebraucht, hatte überlegt, was er ihr sagen könnte, und dabei war sie die ganze Zeit zum Greifen nahe gewesen! Er sah sie direkt vor sich: lächelnd, klein und zierlich, entschlossen und zaghaft zugleich streckte sie die Hand aus, um ihn zu berühren.
Aber was sie nicht wusste, was Martin ihr nicht erzählen konnte, ja noch nicht einmal sich selbst eingestehen wollte, geschweige denn Ray oder einem anderen Bruin anvertrauen konnte, war: Er hatte sie einfach nicht gesehen.
Während er nun dasaß und in die Dunkelheit spähte, war ihm, als hingen dichte Spinnweben von den Bäumen. Er deckte zuerst das eine, dann das andere Auge ab, prüfte seine Sehschärfe. Der Nachthimmel war klar, aber er selbst saß im Nebel. Seine Sicht, vor allem auf dem rechten Auge, war seit einigen Wochen immer verschwommener geworden. Er hatte es dem Mannschaftsarzt verschwiegen, hatte sogar Angst gehabt, sich May anzuvertrauen. Als sie ihm ihren Besuch in Estonia gestanden hatte, war dies für Martin ein willkommener Vorwand gewesen, überhaupt nicht mehr mit ihr reden zu müssen. Er war einfach fortgegangen.
Heute Abend war sie weder in Boston noch in Black Hall. Voller Sorge war er von Boston an die Küste von Connecticut und zurück gefahren. Ihr Van war nirgendwo zu sehen. Tante Enid war allein im Farmhaus gewesen, hatte vor dem Fernseher gesessen und
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