Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Welt. Überall befanden sich Instrumente und Geräte. Auf einem Tisch stand ein wuchtiges Mikroskop, auf einem anderen ein Computer-Terminal. Martin kam sich vor, als hätte er das innerste Heiligtum eines Spitzen-Wissenschaftlers betreten, und nicht das Sprechzimmer einer netten alten Dame, die angeboten hatte, sie ›Teddy‹ zu nennen.
»Mein privates Forschungslabor«, sagte sie. »Ich schreibe meine wissenschaftlichen Arbeiten überwiegend zu Hause und habe die Ausrüstung, die ich brauche, gerne an Ort und Stelle.«
»Sie sind auch in der Forschung tätig?« May war erleichtert.
»Ja. Ich lehre in Harvard und muss meinen Studenten immer voraus sein, was die neuesten Erkenntnisse in meinem Metier angeht. Meine Praxis ist eine Art Außenstelle der Bostoner Augenklinik, wo ich die meisten Patienten behandle. Aber angesichts Ihres Bekanntheitsgrades, Martin, hielt ich es für besser, den ersten Termin unter Ausschluss der Öffentlichkeit wahrzunehmen.«
»Ich bin sicher, damit wird es auch getan sein«, sagte Martin.
Teddy antwortete nicht, sondern forderte ihn mit einer Geste auf, sich zu setzen. May und Martin nahmen nebeneinander Platz, Teddy gegenüber. Sie legte ein Patientenblatt an, mit einer ausführlichen Aufzeichnung seiner medizinischen Vorgeschichte, angefangen von Kinderkrankheiten bis zu Sehnenrissen. Sie ging dabei besonders auf Allergien, medikamentöse Behandlungen und chirurgische Eingriffe ein, wie die Entfernung der Mandeln und Knöcheloperationen.
»Hatten Sie Kopfverletzungen?«
»Ungefähr zehntausend.«
»Können Sie sich an alle erinnern?«
»An jede einzelne.«
»Dann schießen Sie los.« Sie lächelte, fing ein neues Blatt an.
Gehirnerschütterungen, Schädelfraktur, Kiefernbrüche, zertrümmerte Augenhöhle, Netzhautablösung, ein ausgerenkter Kiefer, Platzwunden am Kopf, an der Stirn, am Kinn und an den Wangen. Er zeigte ihr seine Narben, die sie, aus der professionellen Warte, zu bewundern schien. Mit jeder einzelnen war eine Geschichte verbunden, die Erinnerung an verschiedene Gegner in verschiedenen Städten. Besonders seine Augen sagten alles über sein Verhältnis zu Nils Jorgensen aus.
»Und was führt Sie zu mir?«
»Nun, ich sehe in letzter Zeit ein wenig verschwommen.«
»Verschwommen?«
»Ja. Nicht immer. Meistens ist alles in Ordnung. Aber manchmal ist es so, als würde ich durch …« Er suchte nach dem richtigen Wort, als könnte sich das Problem durch die falsche Bezeichnung verschlimmern, »… durch eine Nebelwand blicken. Oder einen Vorhang.«
»Auf beiden Augen?«
»Auf dem linken ist es schlimmer«, gestand er, ohne May anzuschauen.
»Wann haben Sie die Symptome zum ersten Mal bemerkt?«
»Das ist schon eine Weile her.« Er vermied immer noch krampfhaft, in Mays Richtung zu blicken.
»Wie lange ist das her? Ein Monat, zwei Monate?«
»Ein Jahr. Es ist schon ein Jahr her.«
Die Symptome waren zum ersten Mal im letzten Jahr aufgetreten, unmittelbar vor den Playoffs, während eines regulären Spiels in der Saison gegen die Rangers, wenige Wochen bevor er May begegnet war. Sie waren kaum der Rede wert, vor allem im Vergleich zu der Augenverletzung vor drei Jahren, als Nils Jorgensen ihm einen Fausthieb versetzt hatte und die Welt in Finsternis versunken war.
Martin hatte eine zerschmetterte Augenhöhle und eine Netzhautablösung davongetragen. Er war die Hälfte der Saison außer Gefecht gesetzt, aber der Schaden konnte operativ behoben werden und bis zum nächsten Jahr war er so gut wie neu. Anfangs hatte er regelmäßig Augenuntersuchungen durchführen lassen, aber sobald sein Sehvermögen hundertprozentig wiederhergestellt war, hatte er es schleifen lassen.
Bis vor einem Jahr hatten seine Augen tadellos funktioniert. Doch eines Tages sah er alles nur verschwommen. Ganz plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, und zuerst hatte er angenommen, er hätte etwas im Auge. Vom Spielgeschehen abgelenkt, hatte ihn ein Stock an der Schläfe erwischt, Levebre war es gelungen, ein Tor für New York zu erzielen, und Martin hatte eine wichtige Lektion gelernt: konzentriert weiterspielen, gleich ob mit oder ohne klare Sicht.
Das war kein großes Problem für ihn. Martin hatte schon vor langer Zeit entdeckt, dass er auf dem Eis viele Krisen zu bewältigen vermochte. Auf Schlittschuhen zu stehen hatte ihm geholfen, den Auszug seines Vaters, die Scheidung, den Tod seiner Mutter und dann Natalies zu verkraften. Jeden Tag betrat er mit Schmerzen in den Knöcheln und
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