Was allein das Herz erkennt (German Edition)
und May war ihr dankbar. Martin stand unter Hochspannung, ging bei der geringsten Kleinigkeit in die Luft und verkroch sich im Bett, in seinem Refugium.
Die Untersuchung dauerte nicht lange. May stand auf, als Teddy sie in ihr Sprechzimmer winkte, wo Martin bereits wartete. In ihrem weißen Laborkittel sah sie heute sehr professionell aus, als sie auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches Platz nahm. Aber der Eindruck wurde aufgelockert durch das weiße Haar, das sie hoch auf dem Kopf aufgetürmt hatte, und die baumelnden Brillantohrringe. Ihre Miene war teilnahmsvoll und May brach das Herz.
»Das Kortison schlägt nicht an. Nicht so, wie wir hofften.«
»Nein«, flüsterte May.
Martin blickte starr geradeaus. Er war attraktiv und seine blauen Augen wirkten so lebendig wie an dem Tag, als sie sich in ihn verliebt hatte: Als er Kylie aus dem mit Rauch angefüllten Flugzeug getragen hatte.
»Komplizierte Abhebungen, große Risse in der Netzhaut und Traktionsablösungen verlangen bisweilen eine andere Behandlungsmethode. Die Beste ist eine Vitrektomie.« Während es in ihrem Kopf summte wie in einem Bienenkorb, hörte May zu, wie Teddy die Operation beschrieb: Entfernung der Glaskörperflüssigkeit, um das Blut aus dem rechten Auge abzuleiten – dem guten Auge –, bevor der Sehnerv weiter geschädigt würde, so dass die noch vorhandene Sehkraft nach Möglichkeit erhalten blieb.
»Mein linkes Auge –« Martin stockte.
»Für das linke Auge kann man nichts mehr tun«, sagte Teddy leise.
»Wird das Sehvermögen auf dem rechten Auge durch die Operation besser?«
»Nein.«
Mays Augen füllten sich mit Tränen. Sie sah nun selbst nichts mehr und hörte nur, wie Teddy eine Schachtel mit Papiertüchern herüberschob. Martin saß reglos da. May sah, dass sein Rücken kerzengerade und seine Miene gefasst war. In seinen Augen war keine Spur von Angst zu entdecken, als er sich zu ihr umwandte.
»Es tut mir Leid, May.«
»Oh Martin –« Sie versuchte krampfhaft, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen.
»Ich möchte die Operation so bald wie möglich durchführen«, sagte Teddy.
»In Ordnung.« Martin war einverstanden.
»Nächsten Dienstag. Gleich in der Früh.«
»Gut.«
May nahm Handtasche und Jacke. Teddy gab Martin Anweisungen, wohin er kommen und ab wann er am Abend vor dem Eingriff nüchtern bleiben sollte. Ihre Stimme klang zuversichtlich.
May sah sich im Raum um. Williams Leuchtturm-Fotos glänzten an der Wand. May erinnerte sich, wie ihr die Bilder beim ersten Mal erschienen waren: wie ein leuchtendes Fanal der Hoffnung und Inspiration in dunkler Nacht. Martin betrat nun das Reich der Dunkelheit und sie betete um Kraft, damit er alles durchstand und ertrug, was immer auch folgen sollte. Sie schloss die Augen und stellte sich den Lichtstrahl des Leuchtturms vor, der den Horizont erhellte und ihnen den Weg wies.
27
V orher hatte er nur schlafen wollen, jetzt war sein einziger Wunsch, wach zu bleiben. Martin hielt May in den Armen, betrachtete ihr liebreizendes Gesicht, die sanften Rundungen ihres Körpers, den zärtlichen Blick in ihren Augen. Würde er ihre Liebe auch dann noch spüren können, wenn er sie nicht mehr sah?
Boston war nur noch ein verschwommenes Lichtermeer, das ihn an den See erinnerte. Er stellte sich die Berge vor, die sich klar gegen den Himmel abzeichneten. Das Mondlicht, das sich wie ein hauchdünner weißer Schleier über Felder und Scheune und den Lac Vert breitete. Er dachte daran, dass das Mondlicht am Lac Vert für ihn das Schönste auf der ganzen Welt war.
»Woran denkst du?«, fragte May, als sie neben ihn ans Fenster trat.
»Ich möchte mein Augenlicht nicht verlieren.« Sie waren nackt, sahen sich an. Er blickte auf den feuchten Schimmer ihrer weichen Haut, dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie.
»Komm ins Bett.« Sie zog an seiner Hand.
»Ich möchte nicht vergessen. Ich möchte alles in meiner Erinnerung bewahren.«
»Erinnerung …«, erwiderte sie fragend.
»Wie alles aussieht.« Seine Kehle brannte. »Wie herrlich die Welt in Wirklichkeit ist.« Er fühlte sich beflügelt, ging zum Sekretär, in dem er seine Brieftasche verwahrte, und wühlte darin herum, auf der Suche nach den Fotos. Von Natalie, Kylie und May.
Als er die Fotos betrachtete, konnte er die Gesichtszüge nicht mehr klar erkennen. Wie eine Erinnerung, die bereits zu verblassen begann: Wie war sie gewesen, die Gesichtsform seiner Tochter, die Farbe ihrer Haare
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