Was allein das Herz erkennt (German Edition)
konnte ihn aber nicht sehen.
»Martin …«, kam Rays Stimme.
Martin drehte sich herum, in die Richtung, aus der Jorgensen gesprochen hatte, aber der Goalie war weg, fuhr wütend auf und ab, fluchte über Martins schlechte Manieren.
»Jorgensen.« Martin streckte die Hand aus.
»Ja?« Der Torhüter hielt abrupt an.
Martin hatte ihn nun ausgemacht. Er stand mit dem Rücken zur Umkleidekabine, das Licht der Eisbahn beleuchtete seine Silhouette von hinten wie ein Heiligenschein. Der Goalie lachte, wich zurück, machte es Martin schwer, seine Hand zu ergreifen. Martin fuhr schneller, um es hinter sich zu bringen, aus dem Stadion herauszukommen.
Er stolperte über Mark Esposito, der sich gebückt hatte, um seine Schlittschuhe fester zu schnüren. Die Männer fielen übereinander, und als Martin hochsah, war die Eisbahn so schwarz, als hätte sich eine stockfinstere Nacht über den See hinabgesenkt, ohne Mond oder Sterne, um seinen Weg zu beleuchten. Mark rappelte sich hoch, aber Martin rührte sich nicht.
»Martin?« Rays Stimme.
»Ich brauche Hilfe«, hörte Martin sich sagen.
Eine Hand kam aus der Dunkelheit. Martin ergriff sie, spürte, wie er hochgezogen und auf die Füße gestellt wurde. Plötzlich kamen ihm seine Schlittschuhe wie Fremdkörper vor und er fürchtete, erneut die Balance zu verlieren.
»Ganz ruhig, Cartier«, sagte Jorgensen und Martin spürte den Arm des Goalies um seine Hüfte. »Geht’s wieder?«
»Martin!« Ray stand so dicht neben ihm, dass Martin seinen Atem auf der Wange spürte. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Nein«, hörte sich Martin in der endlos weiten, leeren Dunkelheit des Eisstadions flüstern, das einst sein Zuhause gewesen war.
*
»Wie lange wusstet ihr es schon?«, fragte Genny am Abend vor Martins Operation. Die Gardners waren nach Black Hall gekommen und als die Sonne unterging, machten May und sie einen Spaziergang durch den Rosengarten.
»Fast den ganzen Sommer«, gestand May.
»Warum hast du mir nie etwas gesagt?«, erwiderte Genny verletzt.
May ließ sich Zeit mit der Antwort. Es wehte ein kühler Wind und sie hatte die Hände in den Taschen ihrer Jacke vergraben. Der Herbst stand vor der Tür. Heute Morgen hatten Kylie und sie die ersten Vorboten entdeckt, eine dunkelrote Weinrebe, die sich ihren Weg durch das Geäst einer Kiefer hinter der Scheune gebahnt hatte. Die Schule würde bald beginnen, und Martin würde sich von der Operation erholen.
»Ich könnte jetzt behaupten, weil Martin mich darum gebeten hat, aber das ist nicht der eigentliche Grund.«
»Sondern?«
»Weil ich mir die Wahrheit selbst nicht eingestehen wollte. Dass er erblinden wird. Wenn ich es dir erzählt hätte, hättest du es Ray gesagt und wir wären gezwungen gewesen, uns damit auseinander zu setzen. Wir wollten, trotz der Unfälle und Arzttermine, den Sommer noch ein wenig länger festhalten.«
»Ich kann es immer noch nicht glauben. Ich mag Martin sehr gerne, kenne ihn von Kindesbeinen an. Unfassbar, dass er nicht mehr richtig sehen kann.«
»Ich weiß.«
»Er ist mit Leib und Seele Eishockeyspieler. Er ist der Beste in seinem Metier, es gibt niemanden, der sich mit ihm messen könnte. Damals, als uns sein Vater trainierte, sagte er oft, es gäbe niemanden, der mehr Talent hätte als Martin.«
»Das hat Serge gesagt? In Martins Beisein?«
»Keine Ahnung. Aber auf jeden Fall zu Ray und mir, und den anderen. Warum?«
»Weil ich nicht sicher bin, ob Martin das weiß.«
»Haben die beiden denn noch Kontakt?«
»Serge hat ihm einen Brief geschrieben. Martin war wütend, dass ich ihn überhaupt geöffnet habe.«
»Kann ich mir vorstellen.«
Die ersten Sterne waren am Abendhimmel aufgegangen und die letzten Leuchtkäfer des Sommers schwirrten durch den Rosengarten. May pflückte eine einzelne, makellos weiße Rose, als Ergänzung zu der anderen, die sie vom Lac Vert mitgebracht hatte, als sie vor zwei Wochen von dort aufgebrochen waren. Sie steckte sie in ihre Tasche und dachte an den morgigen Tag.
»Warum glaube ich, dass er die Augen öffnen und sehen könnte, wenn er seinem Vater verzeihen würde?«, fragte May ihre Freundin.
»Weil du eine Heilerin bist. Du weißt um die Zusammenhänge im Leben. Du hast Martin geholfen, wieder zu sich selbst zu finden, sich ganz zu fühlen.«
May blickte zu den Sternen empor, auf die Konstellationen, die sie erkennen konnte. Sie dachte an die vielen Legenden von den tragischen Liebenden, die durch Zeit und Raum voneinander getrennt
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