Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Nils eine Rauferei angezettelt, die inzwischen in die Annalen der Eishockeygeschichte eingegangen war: Nils hatte sich dabei einen Nasenbeinbruch und mehrere Gesichtsverletzungen zugezogen, die einer chirurgischen Behandlung größeren Ausmaßes bedurften. Aus Rache hatte er vor drei Saisons Cartier in die Mangel genommen; das Ergebnis war eine zertrümmerte Augenhöhle und eine Netzhautablösung, so dass sich Martin ebenfalls einer Operation unterziehen musste. Eishockey war ein rauer Sport, aber als May die Narben auf Wangen und Kinn des Torhüters sah, wurde ihr eiskalt bei dem Gedanken, dass sie von Martin stammten und dass hier das alte Gesetz Auge um Auge, Zahn um Zahn galt.
Als die Kamera nun Martins Gesicht in Großaufnahme zeigte, dachte May, dass sie noch nie eine solche Intensität in den Augen eines Menschen gesehen hatte.
»Sie hassen sich«, sagte Tobin.
»Scheint so.« May schauderte.
»Meine Güte, May!«
»Ich weiß.«
»Ein tödlicher Blick, so etwas sieht man nicht jeden Tag. Martin hasst Jorgensen wie die Pest. Sollte ich mir jetzt Sorgen machen, deinetwegen?«
May hatte die Gesichter der beiden Erzrivalen betrachtet und sich bewusst gemacht, dass Gefühle keine Einbahnstraße sind: Wenn Martin Jorgensen hasste, beruhte das wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit.
»Meinetwegen?« May war überrascht über die Frage ihrer Freundin.
»Ein Mann, der so aussehen kann, der in der Lage ist, jemanden aufs Messer zu bekämpfen, der seine Gefühle so wenig unter Kontrolle hat …«
»Zu mir ist er sanft wie ein Lamm, Tobin«, sagte May und erinnerte sich an seinen Kuss.
»Stille Wasser.« Tobin starrte auf den Bildschirm. »Du musst doch auch sehen, dass dieser Mann den Teufel im Leib hat. Er ist gewalttätig.«
»Nicht mir gegenüber.«
»Ich würde gerne wissen, wie weit er sich in der Hand hat. Wenn er richtig in Rage gerät.«
May dachte an die Eulen in der Scheune, wie ihre Augen sich zu Schlitzen verengten, bevor sie sich auf ihre Beute hinabstürzten, und genau dieses Bild bot Martin nun. Die Idee, ihm Rosenblätter zu schenken, erschien ihr mit einem Mal lächerlich und unangebracht, aber als sie sich tiefer ins Bett kuschelte, dachte sie: Es war vorherbestimmt …
» Du sagst ja gar nichts«, hakte Tobin nach.
»Gordon war Akademiker«, erwiderte May ruhig. »Er hat in Harvard Jura studiert. Er ist Partner in der renommierten Anwaltsfirma Swopes and Bray, Mitglied im University Club. Es gibt niemanden, der sich mehr unter Kontrolle hat als Gordon. Stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Und niemand hat mich mehr verletzt.«
»Ich weiß«, räumte Tobin ein.
»Martin wird mich nicht verletzen.«
»Gewinnen sie?«, murmelte Kylie im Halbschlaf.
»Ja, sieht so aus, es steht 2:1«, sagte May.
»Wo ist Martin?«
»Dort.« May beugte sich vor, um seine Gestalt auf dem Bildschirm zu berühren.
»Martin ist schnell«, sagte Kylie. »Und er kann rückwärts Schlittschuh laufen.«
»Ja.« May ließ ihn nicht aus den Augen.
»Das kannst du laut sagen«, fügte Tobin hinzu und ließ May damit wissen, dass sie auf ihrer Seite war.
Eishockey hatte bisher keine von beiden interessiert. Das galt für alle Mannschaftssportarten. Als junge Mädchen hatten May und Tobin Tennis gespielt, waren schwimmen gegangen und Fahrrad gefahren. Sie hatten jeden Sommer in der Gegend um Selden’s Castle Wanderungen unternommen und waren im Winter auf Langlaufskiern durch die Felder von Black Hall gestreift. Doch als sie jetzt zusahen, wie Martin Cartier den Puck mit mörderischer Wucht ins Netz donnerte, fragte sich May, ob sie nicht doch etwas verpasst hatte.
Er stürmte in die Verteidigungszone, fuhr rückwärts und vorwärts, bewegte sich, als sei er auf dem Eis geboren, lief pfeilschnell nach vorne und unmerklich nach hinten, hielt die gegnerische Mannschaft zum Narren, nahm den Puck sicher an, spielte exakte Pässe, schoss aufs Tor, und das alles in einer einzigen harmonischen, flüssigen Bewegung. Dann wiederholte er das Manöver von der anderen Seite. Es war ein Tanz und ein Kampf zugleich. May war wie gebannt, aber die Auswirkungen dieses Schauspiels machten ihr Angst und das vernarbte Gesicht des Torhüters der Edmonton Oilers.
»Los, los!«, feuerte Tobin Martin an.
Die Zuschauer tobten und die Kommentatoren im Stadion brüllten, um das Tohuwabohu zu übertönen. May sah, wie die Uhr lief, gleich war das letzte Drittel der Spielzeit vorbei. Sie hatte die Fingernägel in ihre Handflächen gegraben, als
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