Was allein das Herz erkennt (German Edition)
willst du das wissen?«
»Aus dem Fernsehen. Du kannst dich mit eigenen Augen überzeugen, dass er wirklich dort ist, wo er zu sein behauptet.«
»Warum will er mich dann nicht dabeihaben?«
»Vielleicht aus dem Grund, den er dir genannt hat: Er hat Angst, dass du ihn ablenken könntest.«
»Ich glaube, er hat bei unserem Telefonat gestern Abend gemerkt, dass ich verärgert war.« May blickte versonnen auf die Scheune, die Bridal Barn beherbergte, und schüttelte den Kopf. »Beziehungen sind kompliziert. Ich habe noch nicht einmal richtig angefangen, mich auf eine einzulassen, und schon kann ich mich selbst nicht mehr leiden.«
»Gordon hat dich wirklich verkorkst.«
»Dafür kann aber Martin nichts.«
»Dann sag ihm das, wenn ihr das nächste Mal miteinander sprecht. Wünsch ihm Glück, von ganzem Herzen, ohne Vorbehalt.«
»Mache ich«, versprach May unglücklich.
Aber Martin rief an diesem Tag nicht an und sie hatte keine Telefonnummer von ihm. Sie schaute sich das Spiel im Fernsehen an, sah, wie Martin vom Slot aus einen spektakulären Schuss hoch im ›Käfig‹ platzierte, der die Zuschauer im Fleet Center von den Füßen riss und ihm donnernden Applaus eintrug. Nils Jorgensen versuchte, sich auf ihn zu stürzen, wurde aber von seinen Teamkameraden zurückgehalten. Martin blickte ihn an und May sah die Wut, die zwischen ihnen aufloderte.
Sie wünschte, er würde sie anrufen, aber er tat es nicht.
*
In einem Raum mit blauen nackten Betonwänden, der nach Schweiß, abgestandenem Zigarettenrauch und eingeschmuggeltem Alkohol stank, hatten sich einige Männer um den Fernseher geschart, jubelnd und laut spottend, beinahe in gleichem Maß. Die Bruins hatten gerade das sechste Spiel für sich entschieden. Der Zellenblock war aus Beton und Stahl erbaut, so dass die Stimmen der Männer hohl und dröhnend widerhallten. Hört sich an wie ein Puck, der gegen die Wände prallt, dachte der alte Mann.
»Der Bursche hat einen Killerinstinkt«, rief einer der Männer bewundernd mit Blick auf Martin Cartier. »Meine Fresse, der ist vom gleichen Kaliber wie wir, darauf könnt ihr Gift nehmen!«
»Die Bruins sind Weicheier, die Ranger hätten ihnen zeigen sollen, wo’s langgeht –«
»Erbarmungslos, Mann – Cartiers Junge ist erbarmungslos.«
»Das nächste Mal nehme ich einen Hockeyschläger, das sage ich euch, damit kann man alles kurz und klein schlagen.«
»Dein Junge geht über Leichen«, lachte ein anderer Insasse und pflanzte sich vor Serge auf. »Das gefällt dir doch, oder?«
»Kann man wohl sagen«, brummte Serge.
»Er ist ein Held, Mann«, sagte ein anderer. »Ein verdammter Nationalheld.«
»Das schafft kein Kanadier, Mann. Wir sind hier in den USA, falls du das vergessen hast!«
»Der reißt sich den Stanley Cup unter den Nagel!«
»He, Alter, was sagst du dazu?«
»Heute Abend reißt er sich nichts unter den Nagel«, erwiderte Serge rau, den Blick auf das Gesicht seines Sohnes auf dem Bildschirm gerichtet. Er glaubte beinahe, die wunderbare prickelnde Kälte spüren zu können, die vom Eis aufstieg. Er atmete die frostige Luft ein, dachte an die Wälder im Norden. »Zerbrecht euch nicht den Kopf über ungelegte Eier. Noch ist nicht aller Tage Abend.«
*
Das siebte Spiel würde gleich beginnen und überall im ganzen Lande stimmten sich die Eishockeyfans auf die dramatische Endrunde in Boston, Massachusetts, ein. Einhundert Meilen südlich, in Black Hall, Connecticut, saßen May und Kylie erneut in Mays Schlafzimmer vor dem Fernseher. Violet, die schwarze Hauskatze, lag zusammengerollt zu ihren Füßen. Am Samstag sollte eine große Hochzeit stattfinden und May war von Zeichnungen, Fotos, Listen und Menükarten umgeben.
»Warum können wir nicht hinfahren?«, fragte Kylie stirnrunzelnd. »Ich möchte bei dem Spiel dabei sein. Wir sind doch etwas Besonderes für ihn.«
»Es ist besser, von hier aus zuzuschauen«, entgegnete May. Doch tief in ihrem Innern fragte sie sich, ob sie wirklich etwas Besonderes für ihn waren. Er hatte seit zwei Tagen nichts mehr von sich hören lassen. May war beschäftigt gewesen, mit ihrer Arbeit und Kylie, die in der letzten Nacht schlecht geträumt hatte, von winzigen stummen Wesen, die ihr etwas zu sagen versuchten und wie tausend weiße Motten ihren Kopf umschwirrten. May hatte die Einzelheiten in ihrem Tagebuch vermerkt.
Das Telefon läutete und May ging ran, wahrscheinlich die Braut, ihre Mutter oder der Lieferant des
Weitere Kostenlose Bücher